Schattenblick →INFOPOOL →UMWELT → MEINUNGEN

STANDPUNKT/603: Erbschaft verpflichtet - Müssen Agrarlandschaften artenreich sein? (naturmagazin)


naturmagazin
Berlin - Brandenburg
Ausgabe 3/2014

Erbschaft verpflichtet
Müssen Agrarlandschaften artenreich sein?

von Roland Lehmann



Mit Windrädern gespickte Mais- und Rapsschläge prägen neben sattgrünen Weiden ohne geringste Farbtupfer zunehmend das ländliche Brandenburg. Längst gehört es zum Allgemeinwissen, dass auf konsequent gewinnorientiert bewirtschafteten Hochleistungsflächen keine Abweichung geduldet werden kann. Jede Art, die es dort neben der eigentlichen Nutzpflanze aushält, muss als Konkurrent angesehen und bekämpft werden. Was die Chemie nicht schafft, kann inzwischen die Gentechnik. Dem Fortschritt sei's gedankt! Dass dabei auch Allerweltsarten wie Feldlerche, Goldammer oder Feldhamster, viele Wildbienen und Hummeln, Schwarzkümmel, Rittersporn und alte Obstsorten auf der Strecke bleiben, wird als Kollateralschaden verbucht. Zusätzliche Verwüstung der Agrarlandschaft brachte die Energiewende mit sich - mit subventioniertem Biomasseanbau, insbesondere Mais und Raps. Stillegungsflächen gibt es seitdem kaum noch und Dauergrünland wird fleißig umgebrochen. Die Landwirtschaft als Ganzes mutierte zur Artenvernichtungsindustrie.


Dabei fing alles ganz anders an - damals, als die ersten Bauern nach Mitteleuropa einwanderten. Sie lichteten die von den römischen Legionen gefürchteten finsteren germanischen Wälder auf, damit die Landwirtschaft dort Fuß fassen konnte. Im Gepäck hatten die Bauern aber nicht nur Hafer, Weizen oder Dinkel, sie hatten auch hunderte Pflanzen- und Tierarten im Geleit, die sich bald in den neu geschaffenen Offenlandschaften etablierten. Mitteleuropa erlebte während dieser Zeit einen regelrechten Biodiversitätshype. Es entstand eine Landschaft, die wir rückblickend als Kulturlandschaft bezeichnen.

In unserem Sprachgebrauch ist "Kultur" durchaus positiv belegt, und im herkömmlichen Sinne ist auch die Kulturlandschaft eine schöne Landschaft. Ihr Artenreichtum spielt dabei erst einmal eine untergeordnete Rolle. Sie ist einfach schön durch ihre Vielfalt, den Wechsel, der dem Auge immer wieder neue Bilder, neue Farben und Formen anbietet. Dass Vielfalt und Wechsel auf kleinem Raum Voraussetzungen für Artenreichtum bieten, hat man erst später wahrgenommen. Der Wechsel von Äckern, Weiden, Wiesen, Brachen, Hecken, Baumreihen, Feldwegen, Feldrandstreifen, Streuobstwiesen, kleinen Teichen oder Vernässungsstellen schuf eine unglaubliche Vielfalt an Licht-, Feuchte- und Temperaturgradienten. So entstanden nebeneinander oder zeitlich versetzt für unzählige Arten Lebensräume - in der Fachsprache "ökologische Nischen" genannt.

Die Vielzahl von Mikrostandorten verhinderte in der traditionellen Kulturlandschaft die Dominanz einiger weniger Arten. Diese Art der Landbewirtschaftung schuf Artenreichtum. Und das nicht nur bei den Pflanzen: Sie selbst waren und sind die Nahrung einer erstaunlich großen Zahl von Tierarten, vor allem von Wirbellosen. Unter den Ackerbegleitpflanzen ist die Quecke mit 81 Tierarten, die von ihr leben, der Spitzenreiter. Von vielen heute als lästiges Unkraut betrachtet, ist sie doch für viele Pflanzenfresser (Phytophage) unentbehrlich. Ähnliches gilt für die Kreuzkräuter und die Knötericharten. Ihre Bekämpfung in den Ackerkulturen gerät zur Kettenreaktion. Auch Feldhecken sind in der Agrarlandschaft für rund 1.000 Tierarten ein wichtiger Lebensraum. Die wenigen Beispiele sollen genügen, um zu zeigen, dass die Agrarlandschaft unglaublich artenreich sein kann. Sie ist als Kulturlandschaft auch kulturelles Erbe; sie ist ebenso Zeitzeuge wie ein Rembrandt-Gemälde, eine Beethoven-Sinfonie oder der Kölner Dom. Folgert man weiter, so gehört eben auch Artenreichtum in der Kulturlandschaft zum kulturellen Erbe! Bunt blühende Mähwiesen mit leuchtend weißen Margariten, blauen Wiesen-Glockenblumem und mit gelb blühendem Echten-Labkraut müssen heute europaweit geschützt werden, weil sie fast verschwunden sind.

Zu den am stärksten gefährdeten Pflanzenarten gehören heute die der Agrarlandschaft. Bei den Vogelarten ist es nicht anders. Wenn sich die Bestände der Feldlerche in Mitteleuropa in den vergangenen 30 Jahren halbiert haben, sollten die Alarmglocken läuten. Oder auch, weil inzwischen fast jede vierte Hummelart in Europa vom Aussterben bedroht ist. Sie sind aber neben den Bienen die wichtigsten Blütenbestäuber.

Die für unser Empfinden schöne, gleichzeitig artenreiche und erhaltswerte Kulturlandschaft befindet sich auf der schiefen Ebene. Warum kann uns das nicht egal sein? Weil wir über die Hälfte der Fläche der Bundesrepublik Deutschland sprechen. Geht es wirklich nicht anders? Rangiert der Gewinn in der Agrarindustrie tatsächlich vor dem massenhaften Artensterben in den Resten alter Kulturlandschaften, vor der Vernichtung unseres kulturellen Erbes?

*

Quelle:
naturmagazin, 28. Jahrgang - Nr. 3, August bis Oktober 2014, S. 4-5
Herausgeber: Naturschutzzentrum Ökowerk Berlin
Naturschutzbund Deutschland (NABU) e.V., Landesverband Brandenburg
Natur & Text GmbH
Redaktion: Natur & Text GmbH
Friedensallee 21, 13834 Rangsdorf
Tel.: 033708/20431, Fax: 033708/20433
E-Mail: verlag@naturundtext.de
Internet: www.naturundtext.de
Internet: www.naturmagazin.info
 
Das naturmagazin erscheint vierteljährlich und kostet 4,30 Euro
oder 16,50 Euro im Abonnement (4 Ausgaben). Schüler, Studenten und
Mitglieder eines Naturschutzverbandes zahlen jährlich 12,50 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. August 2014