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KLIMA/329: Bezichtigung pur - Dicke schuld an Erderwärmung? (SB)


Berechnung des Energieverbrauchs von normalen und dicken Menschen

Britische Forscher leisten Individualisierung des globalen Klimaproblems Vorschub


Die Kampagne gegen Menschen, die angeblich zu dick sind, nimmt immer bizarrere Züge an. Jetzt sollen die Dicken auch noch für den Klimawandel verantwortlich gemacht werden.

Die vermeintlich schlaue Deutungskette geht wie folgt: Weil übergewichtige oder dicke Menschen angeblich mehr verzehren, verbrauchen sie mehr Nahrung, die jedoch unter einem größeren Energieeinsatz hergestellt werden muß. Dabei werden mehr Treibhausgase produziert, die zur Erderwärmung beitragen. Darüber hinaus erhöhen schwere Menschen die Transportkosten, berichtete Reuters unter Berufung auf einen Fachartikel im britischen Medizinjournal "The Lancet" (16.5.2008).

Die Forscher Phil Edwards und Ian Roberts von der London School of Hygiene & Tropical Medicine versuchten, die Bedeutung ihrer Rechnung herauszustellen, indem sie Übergewichtigkeit auf eine Ebene mit den globalen Problemen Lebensmittelmangel und hoher Energiepreisen stellten.

Nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation WHO sind gegenwärtig 400 Millionen Menschen dick, und sie prognostiziert einen Anstieg an dickleibigen Erwachsenen bis zum Jahr 2015 auf 700 Millionen. Zudem seien dann 2,3 Milliarden Menschen übergewichtig.

Nun haben die beiden Forscher eine Computersimulation erstellt und dabei die voraussichtlichen Folgen berechnet, wenn 40 Prozent der Weltbevölkerung nahezu dickleibig wären, das heißt, wenn sie einen Body-mass-index (BMI) von fast 30 besäßen (Ein BMI von 25 gilt als normal, ab BMI 30 gilt ein Mensch als dick). Desweiteren wurde in der Studie angenommen, daß dickleibige Menschen täglich 1680 Kalorien verbrauchen, um ihren normalen Energiebedarf zu decken, und weitere 1280 Kalorien, um ihre täglichen Aktivitäten betreiben zu können. Das sei ein um 18 Prozent höherer Energieverbrauch als der eines Menschen mit einem BMI von 25, schrieben die Forscher und folgerten, daß dickere Menschen den Treibstoffbedarf für Transport und Landwirtschaftsproduktion erhöhen. Das sei insofern relevant, als daß 20 Prozent der Treibhausgasemissionen aus der Landwirtschaft stammten.

Dem noch nicht genug, werden die sogenannten dicken Menschen von den beiden Forschern sogar für den Hunger in der Welt und die hohen Treibstoffpreise verantwortlich gemacht. In der Reuters-Meldung hieß es, daß die Forscher als nächsten Schritt quantifizieren wollen, um welchen Prozentsatz eine schwerere Bevölkerung zu Klimawandel, höheren Spritpreisen und Nahrungsmangel beiträgt.

Mit ihren Berechnungen liefern die Forscher politischen Entscheidungsträgern und anderen gesellschaftlichen Kräften eine Argumentationsgrundlage für restriktive Maßnahmen gegen Menschen, die von der Gesellschaft bereits als "zu dick" diffamiert werden. Die Konsequenzen dieser Denkrichtung liegen auf der Hand. Über Forschungsansätze und -ergebnisse wie den hier beschriebenen nähert man sich wieder längst überholt geglaubter Zeiten der Bezichtigung unliebsamer gesellschaftlicher Gruppen an. Auch wenn es zum gegenwärtigen Zeitpunkt übertrieben wäre, an den einstigen menschenvernichtenden Umgang staatlicher Einrichtungen mit derart ausgegrenzten Personengruppen zu erinnern, wird mit der Medizinstudie zweifelsohne ein Bezichtigungsszenario aufgebaut, das den angeblich zu schweren Menschen auf jeden Fall zum Nachteil gereichen wird, spätestens wenn sich der globale Nahrungsmittelmangel auch in den relativ wohlhabenden Staaten breitmacht und die Verteilung zentral koordiniert wird.

Edwards und Roberts bedienen die weit verbreitete Vorstellung, daß der Klimawandel durch Verhaltensänderungen auf individueller Ebene verhindert werden kann und steigern diese Behauptung noch, indem sie den schwergewichtigeren Menschen eine besondere Verantwortung für diese Entwicklung unterstellen. Damit wird die Lösung für ein globales Problem, die Erderwärmung, kleingeredet, und es wird nahegelegt, als sei es im Grunde genommen mit einfachen Mitteln zu bewältigen. Obgleich selbst renommierte Wissenschaftler nicht leugnen, daß es abgesehen von den wesentlichen anthropogenen Ursachen des Treibhauseffekts auch andere Einflüsse jenseits der menschlichen Sphäre gibt, die zur Erderwärmung beitragen.

Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Die beiden Forscher lasten den dicken Menschen nicht direkt an, daß sie Schuld am Klimawandel sind, geschweige denn daß sie Vorschläge unterbreiteten, wie dicke Menschen zu sanktionieren wären. Doch die Studie wird ja nicht losgelöst von anderen medizinischen bzw. wissenschaftlichen Arbeiten veröffentlicht, sondern trifft erstens auf eine allgemeine Bezichtigungskampagne gegen Dicke und zweitens auf Versuche der vorherrschenden Kräfte, trotz der düsteren Aussichten des globalen Klimawandels die Systemfrage zu umschiffen und statt dessen ausschließlich dem Individuum Verhaltensänderungen aufzunötigen.

21. Mai 2008