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KLIMA/482: 50 Millionen Umweltflüchtlinge bis zum Jahr 2020 auf dem Weg nach Norden (SB)


Klimawandel, Hunger, Migration

Internationale Staatengemeinschaft hat offenbar kein Interesse an verbindlichen Verträgen zur Aufnahme von Klimaflüchtlingen


Rund 6.000 Flüchtlinge aus Tunesien, die vor kurzem auf dem Seeweg die italienische Mittelmeerinsel Lampedusa erreichten, könnten zahlenmäßig nur die Vorhut einer viel umfänglicheren Migration aus den krisengeschüttelten nordafrikanischen Staaten nach Europa sein. In Libyen, wo sich die Bevölkerung anschickt, Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi zu stürzen, harren schätzungsweise bis zu eine Million Menschen auf eine Fluchtmöglichkeit übers Mittelmeer nach Norden.

Nun hat die bloß wenige Tage anhaltende Fluchtbewegung aus Tunesien die italienische Regierung bereits veranlaßt, den Notstand für die Insel auszurufen und Brüssel um Unterstützung durch die europäische Grenzschutzagentur Frontex zu bitten. Zu welchen Maßnahmen wird die EU greifen, wenn sich Millionen Flüchtlinge auf den Weg nach Europa begeben, weil es in ihren Heimatländern entweder politisch oder aufgrund von Nahrungsmangel lebensgefährlich für sie wird? Und was, so wäre daran anschließend zu fragen, werden die Europäer, die in einer vergleichsweise angenehmen Klimazone leben, unternehmen, sollte die Prognose der Forscher zutreffen und sich die Erde stärker aufheizen? Existieren Pläne der EU, wer oder was die Funktion der Flüchtlingsabwehr, für die bislang die repressiven Regime in Nordafrika bezahlt wurden, ersetzen soll?

Sich aus dem privilegierten Norden über Diktatoren wie al-Gaddafi zu empören ist angesichts dessen, daß er eine wichtige Funktion für die EU erfüllte, bigott. Schließlich hat er mit Gewalt dafür gesorgt, daß der Lebensstandard in der Europäischen Union nicht durch Zuwanderung und anschließende Umverteilung des Wohlstands geschmälert wird. Die Berichte aus den Flüchtlingslagern in Libyen bringen es an den Tag: Dort hausen ihrer Freiheit beraubte Menschen und sind der akuten Gefahr ausgesetzt, ausgeplündert, gefoltert, vergewaltigt oder umgebracht zu werden. Zum Beispiel indem sie von den Wachhabenden in die Wüste verschleppt und ausgesetzt werden - zur Wahrung des Wohlstands in der Europäischen Union.

Wenn dieser perfide "Schutz" wegfällt, wird die EU dann selber entsprechende Repressionen durchführen? Das Ausmaß der Flüchtlingsbewegung nimmt in Zukunft zu, der kurzzeitige Exodus aus Tunesien dürfte nur der Vorbote sein. Innerhalb der nächsten neun Jahre werden fünfzig Millionen Umweltflüchtlinge in den globalen Norden wandern, weil sie als Folge des Klimawandels nicht genügend zu essen haben. An diese düstere Einschätzung der Vereinten Nationen erinnerten am Montag die Forscherin Cristina Tirado von der Universität von Kalifornien in Los Angeles und ihre Kollegen auf dem Jahrestreffen der American Association for the Advancement of Science (AAAS). [1] Die vorausgesagte Migrationsbewegung ist im Grunde genommen kein zukünftiges Ereignis, sondern findet längst statt. Als Abwehrmaßnahme werden mit europäischer Hilfe in Nordafrika sogenannte Auffanglager eingerichtet; und jedes Jahr kommen Hunderte Flüchtlinge auf dem Seeweg nach Norden ums Leben.

Der Zerfall der Staatlichkeit wie in Somalia, Bürgerkriege wie in Sudan und Hunger- und Armutsrevolten wie in Tunesien, Ägypten und Libyen werden durch den Klimawandel freigesetzt oder verstärkt. Gegenüber AFP [1] erklärte Prof. Ewen Todd von der Staatsuniversität Michigan, daß Nahrungsverknappung (food stress) der Auslöser für die Revolten in Tunesien und Ägypten war. In vielen Ländern des Mittleren Ostens und Nordafrikas mischten sich Politik, Religion und andere Faktoren, aber oftmals erklärten die Armen lediglich, sie und ihre Familie müßten essen, das habe den Flächenbrand entfacht.

Der Klimawandel werde auch zur Verbreitung von Pathogenen beitragen, warnte Todd in seinem Vortrag zum Thema "How Climate Change Affects the Safety of the World's Food Supply" (Wie der Klimawandel die Sicherheit der Nahrungsversorgung der Welt beeinflußt) auf der AAAS. [2] Als Beispiel nannte er Mykotoxine (Schimmelpilze), die auf zu feuchtem oder zu lange gelagertem Getreide gedeihen und deren Verzehr zu Krankheiten wie Krebs oder Nervenschäden führen kann. Je wärmer der Norden, desto eher können sich dort Mykotoxine ausbreiten.

Jene von den Vereinten Nationen prognostizierte Zahl von 50 Millionen Umweltflüchtlingen bezieht sich nicht allein auf die Migration von Afrika nach Europa. Flüchtlinge stehen auch an der Grenze von Mexiko zu den USA sowie an innerasiatischen Grenzen zwischen ärmeren und wohlhabenderen Regionen. Damit sei in den nächsten Jahren vermehrt zu rechnen, befindet auch die Asian Development Bank (ADB) in einer neuen Studie. [3] Die Politik müsse endlich Mechanismen entwickeln, um mit den Bevölkerungsverschiebungen zurechtzukommen, heißt es in dem Bericht "Climate Change and Migration in Asia and the Pacific" (Klimawandel und Migration in Asien und dem pazifischen Raum).

Daß solche internationalen Mechanismen kaum bis faktisch nicht entwickelt wurden und entsprechende Bemühungen seitens der Regierungen bislang gar nicht erkennbar sind, könnte als Hinweis darauf gedeutet werden, daß jede Nation weitgehend für sich handeln wird. Nun hat aber vor kurzem die Bundesregierung äußerst ablehnend auf den Vorschlag reagiert, Deutschland könne eventuell einige tunesische Flüchtlinge aufnehmen. Man könne nicht die Probleme der ganzen Welt lösen, es gebe keine generelle Aufnahme von Flüchtlingen, es könnten nicht alle Menschen, die jetzt nicht in Tunesien sein wollten, nach Europa kommen, lauteten einige der ablehnenden Bescheide. Wohlgemerkt, es ging nur um insgesamt 6000 Personen, die von Italien und anderen EU-Staaten aufgenommen werden sollten, nicht um zig Millionen Umweltflüchtlinge, die in nächster Zukunft zu erwarten sind.


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Anmerkungen:

[1] "50 million 'environmental refugees' by 2020, experts say", TerraDaily/AFP, 22. Februar 2011
http://www.terradaily.com/reports/50_million_environmental_refugees_by_2020_experts_say_999.htm [2] "Climate Change Affecting Food Safety", ScienceDaily, 21. Februaer 2011
http://www.sciencedaily.com/releases/2011/02/110221101319.htm

[3] "Asia faces climate-induced migration 'crisis'", TerraDaily/AFP, 6. Februar 2011
http://www.terradaily.com/reports/Asia_faces_climate-induced_migration_crisis_999.html

23. Februar 2011