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KLIMA/512: Eisverluste in der Antarktis größer als angenommen (SB)


Antarktische Alpträume



Es hat einmal erdgeschichtliche Zeiten gegeben, da war die Antarktis komplett eisfrei. Dazu wird in der gegenwärtigen Debatte um Klimaschutz regelmäßig die Frage aufgeworfen, ob die Gefahr besteht, daß aufgrund der allgemeinen Erderwärmung der antarktische Eisschild schmelzen könnte. Denn wenn das zuträfe, würde der globale Meeresspiegel um mehr als 60 Meter steigen mit kaum vorhersehbaren Konsequenzen für die menschliche Gesellschaft. "Kaum vorhersehbar" bedeutet, daß niemand zuverlässig abzuschätzen vermag, wie katastrophal eine solche Entwicklung wäre - daß der Eisverlust eine Katastrophe bedeutet, ist dagegen unstrittig.

Wissenschaftler wiegeln ab. Nicht in tausend oder sogar zehntausend Jahren würde die Antarktis ihr Eis verlieren, auch dann nicht, wenn die Zunahme der anthropogenen Treibhausgasemissionen nicht in absehbarer Zeit gebremst wird. Zwischen dem ganz großen Desaster, zu dem es in absehbarer Zeit aus Sicht der Forscher nicht kommen wird, und der Vorstellung, daß der Klimawandel nicht stattfindet, liegen viele Übergangsszenarien, die keinerlei Anlaß für die Hoffnung bieten, mit Abwarten ließe sich das Problem lösen. Denn bereits ein Meeresspiegelanstieg um ein oder zwei Meter würde sich verheerend auswirken. Viele kleine Inseln und flache Küstengebiete, die von zig Millionen Menschen besiedelt und wirtschaftlich genutzt werden, würden überschwemmt. Und ein solches Szenario, bei dem nur Teile der Antarktis schmelzen, wird von Experten als durchaus wahrscheinlich angesehen.

Ein besonderes Augenmerk richten sie auf den Westantarktischen Eisschild, da sich dort der Klimawandel am deutlichsten zeigt: Die Geschwindigkeit, mit der die Gletscher ins Meer fließen, ist hier besonders hoch; manche Küstenbereiche sind bereits eisfrei; im Südsommer fließen besonders viele Schmelzwässer ab. Der Westantarktische Eisschild liegt nicht auf Landmasse auf, sondern reicht teilweise bis zu 2,5 Kilometer tief ins Meer herab. Das macht den Schild besonders anfällig für warme Meeresströmungen.

In der Vergangenheit haben Wissenschaftler häufiger aufgrund ihrer neu gewonnenen Daten vor dem Abschmelzen des Westantarktischen Eisschilds gewarnt. Jüngste Forschungsergebnisse bestätigen nicht nur, daß die Eisdynamik in diesem (noch) sehr frostigen Teil der Welt besonders groß ist, sondern sie besagen, daß bisher manche Faktoren des Gletscherverlustes unterschätzt oder gar nicht beachtet wurden.

Vor kurzem präsentierte eine schwedisch-amerikanische Forschergruppe ihre Untersuchungsergebnisse aus der Westantarktis im Journal "Nature Geoscience". Dabei lag der Schwerpunkt der Beobachtung auf den Schmelzvorgängen, die durch warme Meeresströmungen an der Basis des Eisschilds auftreten. Der Forscher Lars Arneborg von der Abteilung für Erdwissenschaften an der Universität von Göteborg berichtete, daß sich die Eismasse in der Westantarktis ganz klar verringere. Das gelte besonders für die Gletscher, die in die Amundsen-See flössen. [1]

Auch wenn mancher Forscher schon mal gern einen anderen Eindruck erweckt, doch bislang weiß die Forschung wenig über das Verhalten der Gletscher in der Amundsen-See. Auch computergenerierte Klimasimulationen sind nur so zuverlässig wie die Daten, mit denen die Programme gefüttert werden, und Messungen mit Hilfe von Satelliten eignen sich nicht, um zu verstehen, was unterhalb der sichtbaren Oberfläche passiert. Forschungsreisen in die Antarktis oder von einer Eisstation auf dem Kontinent aus sind kostspielig und sehr aufwendig. Den Teams bleiben oftmals nur wenige Monate im Jahr, in denen sie Beobachtungen vor Ort anstellen können. Diese Phasen werden genutzt, um möglichst viele Messungen vorzunehmen. Für die Auswertungen eignen sich dann bestens die frostigen Monate des Südwinters. Aber aus Forschersicht wäre es hochinteressant, auch aus dieser dunklen Zeit etwas über das Verhalten der Gletscher zu erfahren. Denn das könnte ihrer Ansicht nach die Zuverlässigkeit von Klimaprognosen verbessern.

Das ist den schwedischen Ozeanographen gelungen. Sie haben seit 2010 Meßinstrumente in der Amundsen-See platziert, die dort auch im Winter den Zufluß warmen Meerwassers in Richtung Gletscher registrieren. Und das Ergebnis überrascht: Der Zufluß warmen Wassers bleibt auch im Winter relativ konstant. In bisherigen Computermodellen wird dagegen von deutlichen saisonalen Veränderungen der Meeresströmungen ausgegangen.

Wie nicht anders zu erwarten, ziehen die Forscher daraus den Schluß, daß zeitlich längere und räumlich genauere Meßreihen erforderlich sind, um die submarinen Vorgänge besser zu verstehen und die Computermodelle zu verbessern.

Eine weitere aktuelle Studie, die in keinem direkten Zusammenhang mit der obigen steht, zeigt ebenfalls, daß die bisherigen Erkenntnisse zur Antarktis unzureichend und die Eisverluste offenbar größer sind als bisher angenommen. Eine Forschergruppe um Ricarda Winkelmann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) stellt die bisherige Vorstellung in Frage, wonach mehr Schneefall in der Antarktis (als Folge der globalen Erwärmung) automatisch die Eisfläche des südlichen Kontinents vergrößert und dadurch der Treibhauseffekt abgeschwächt wird.

Dazu heißt es in einer Pressemitteilung des PIK: "Jetzt zeigt eine in Nature veröffentlichte Studie, dass viel von diesem zusätzlichen Eis wieder verloren geht, weil sich der Eisfluss in den Ozean beschleunigt. Die Antarktis trägt daher wahrscheinlich mehr zum weltweiten Anstieg des Meeresspiegels bei, als bislang geschätzt wurde." [2] Zwischen 30 und 65 Prozent des Zuwachses an Eis werde durch das Mehr an Schneefall zunichte gemacht durch verstärkten Eisverlust an der Küste der Antarktis, so Winkelmann. Ko-Autor Anders Levermann, Forschungsbereichsleiter am PIK, resümiert: "Wir wissen jetzt, dass der Schneefall in der Antarktis uns nicht vor dem Anstieg des Meeresspiegels retten wird." [2]

Die beiden hier genannten Studien zeigen, daß hinsichtlich des Verhaltens von Eis in der Antarktis noch vieles nicht verstanden ist oder, um es anders zu formulieren, auf diesem Gebiet noch viel Forschungsbedarf besteht. Vor kurzem sagte Prof. Levermann im Gespräch mit dem Schattenblick über die Eisentwicklung in der Antarktis: "Die zeitliche Veränderung der großen Eisschilde ist noch eine sehr, sehr schwierige Frage, wir sind dort wesentlich weniger weit als bei den Klimamodellen. Die Klimamodelle sind mittlerweile gut in der Lage, die vergangenen Temperaturänderungen zu simulieren und nachzuvollziehen und entsprechend auch gute Projektionen für die Zukunft zu geben. Für die Eismodelle gilt dies noch nicht." [3]

An deren Qualifizierung wird laufend gearbeitet, beispielsweise durch Bohrungen von einer Meeresplattform vor der Antarktis aus im Programm ANDRILL (ANtarktic geological DRILLing). Vor gut drei Jahren teilte die mit diesem Vorhaben betraute internationale Forschergruppe unter deutscher Beteiligung mit, daß die Antarktis vor etwa 15,7 Millionen Jahren nahezu eisfrei gewesen war. [4] Bereits wenige Monate zuvor hatte die Forschergruppe mitgeteilt, daß auch nur bei einem leichten Anstieg der atmosphärischen CO2-Konzentration die Stabilität des Westantarktischen Eisschilds betroffen sein werde. Wenn die schützende Eisfläche verschwände, könne auf längere Sicht sogar die gesamte Eismasse der Westantarktis betroffen sein. [5]

Tatsächlich steigt die CO2-Konzentration in der Atmosphäre weiter an [6], so daß der Stabilitätsverlust des Westantarktischen Eisschilds im Laufe dieses Jahrhunderts eintreten wird, falls die wissenschaftlichen Prognosen zutreffen. Das alles ist seit langem bekannt, auch wenn Forschergruppen rund um den Globus laufend weitere Ergebnisse produzieren. Nun wären die politischen Entscheidungsträger gefordert, die wissenschaftlichen Erkenntnisse in adäquate Maßnahmen münden zu lassen, um die besonders schnell und stark von den Klimawandelfolgen betroffenen Mitglieder der globalen Gesellschaft zu schützen. Das geschieht genau nicht. Die Ergebnisse der vor kurzem zu Ende gegangenen UN-Klimaschutzverhandlungen in Doha entsprechen nicht den wissenschaftlichen Vorstellungen davon, was eine angemessene Reaktion auf die sich verändernden Verhältnisse sein müßten.


Fußnoten:

[1] http://www.spacedaily.com/reports/Warm_sea_water_is_melting_Antarctic_glaciers_999.html

[2] http://www.pik-potsdam.de/aktuelles/pressemitteilungen/more-ice-loss-through-snowfall-on-antarctica

[3] http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0035.html

[4] http://www.andrill.org/static/Resources/NewsArchive/10_1_09.pdf

[5] http://www.andrill.org/static/Resources/NewsArchive/3_18_09.pdf

[6] http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/messungen-in-arktis-treibhausgas-co2-ueberschreitet-erstmals-400-ppm-a-836398.html

14. Dezember 2012