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KLIMA/531: Wärmeloch Arktis - Verlust der Rückstrahlung (SB)


Arktische Resteisfläche schrumpft und wird dunkler



Die Arktis unterliegt einer ständigen wissenschaftlichen Beobachtung. Satelliten erfassen regelmäßig die Schneebedeckung an Land und die Ausdehnung des Meereises, Forschungsflugzeuge überfliegen jedes Jahr die Region rund um den Nordpol und führen dabei diverse Messungen durch, und Wissenschaftler unternehmen immer wieder Vorstöße zu Fuß oder per Schiff in die terrestrischen und marinen Regionen der hohen Breiten. Eigentlich sollte man meinen, daß angesichts der zahlreichen Erkundungen, die schon seit über hundert Jahren in der Arktis durchgeführt werden, keine allzu großen Überraschungen mehr entstehen.

Mosaik aus hellen Eis- und dunklen Wasserflächen - Foto: Jeremy Potter NOAA/OAR/OER. Freigegeben als CC-BY-2.0.

Forscher des Eisbrechers HEALY auf dem Meereis des Arktischen Ozeans, Kanadabecken, 22. Juli 2005
Foto: Jeremy Potter NOAA/OAR/OER. Freigegeben als CC-BY-2.0.

Doch dieser Eindruck hatte sich vor einem Jahr als schwerwiegender Irrtum erwiesen. Zum auslaufenden Sommer 2012 war die Meereisfläche auf ein historisches Minimum geschrumpft. Mit einem solchen Extrem, zu dem es innerhalb weniger Wochen gegen Ende August und Anfang September kam, hatten die Experten nicht einmal in dem fünf Jahre zuvor veröffentlichten, umfassenden Bericht des Weltklimarats (IPCC - Intergovernmental Panel on Climate Change) gerechnet. Inzwischen unterbieten sich die Wissenschaftler mit ihren Vorhersagen, ab wann das nordpolare Meereis im Sommer vollständig verschwunden sein könnte, und sowohl die Arktisanrainerstaaten USA, Kanada, Rußland, Norwegen und Dänemark als auch wirtschaftliche Schwergewichte wie China und Deutschland bereiten sich darauf vor, daß die Nordost- und die Nordwestpassage sommers eisfrei werden, so daß sie regelmäßig von Handelsschiffen befahren werden können. Das würde den Warentransport beispielsweise zwischen Asien und Europa räumlich und zeitlich erheblich verkürzen.

Den Prognosen zufolge wird sich das arktische Meereis in diesem Jahr nicht so weit zurückziehen wie 2012, wenngleich es noch deutlich unter dem Durchschnittswert der letzten 30 Jahre bleiben dürfte. Jetzt haben der Forscher Aku Riihela vom Meteorologischen Institut Finnland und seine Kollegen berechnet, daß der Arktische Ozean in den letzten 30 Jahren zum Ende des Sommers im Durchschnitt um 15 Prozent dunkler geworden ist. Damit ist nicht der hinlänglich bekannte Vorgang gemeint, daß die Ausdehnung des Meereises gegen Sommerende am geringsten ist und das Meer verstärkt Wärme absorbiert, sondern daß das verbleibende Eis eine geringere Albedo hat, also weniger Sonnenlicht reflektiert.

Diese Feststellung, die hauptsächlich auf Daten beruht, die zwischen 1982 und 2009 mit dem AVHRR (Advanced Very High Resolution Radiometer) des europäischen Wettersatelliten Metop gewonnen wurden, und jüngst im Wissenschaftsmagazin Nature Climate Change [1] veröffentlicht wurde, kommt insofern nicht völlig überraschend, als daß sie sich mit den Beobachtungen und Messungen anderer Wissenschaftler deckt, denen zufolge beispielsweise die Luft- und Wassertemperaturen ansteigen, sich die Gletscher zurückziehen und die Eisflächen auf dem Land und auf dem Wasser schrumpfen. Allerdings hat sich erwiesen, daß die Entwicklungen in der Arktis die Computersimulationen, die vor fünf bis zehn Jahren erstellt wurden, weit übertreffen. Was früher als Worst-case-Szenario galt, ist inzwischen eingetroffen.

Foto: Michael Studinger, NASA GSFC, 2008. CC BY 2.0 Unported

Schmelzwasser auf der Eisbedeckung von Grönland
Foto: Michael Studinger, NASA GSFC, 2008. CC BY 2.0 Unported

Gegenüber dem Wissenschaftsmagazin "New Scientist" [2] erklärte Riihela, daß die abnehmende Albedo teils mit dem dünner werdenden Eis, teils mit der Bildung von Rissen im Eis und ihrer Verbreiterung zu eisfreien Wasserflächen sowie teils mit der Entstehung von Pfützen auf dem Eis zusammenhängt. Durch letzteres wird die Albedo gegen Ende des Sommers sogar kräftig herabgesenkt, so daß die Sonneneinstrahlung stärker absorbiert wird, was die Bildung von Schmelzwasserflächen auf dem Eis zusätzlich verstärkt.

Nicht nur die Fläche des Meereises nimmt ab, sondern auch sein Volumen. Das berichteten Wissenschaftler, die im vergangenen Jahr mit dem deutschen Forschungsschiff Polarstern die Arktis befahren und dabei die Dicke des Meereises gemessen haben. Laut Marcel Nicolaus vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven ist mehr als die Hälfte des Meereises aus dünnen, einjährigem Eis aufgebaut, auf denen sich im Sommermonat August relativ viele Wasserpfützen bilden.

Bei der finnischen Studie handelt es sich um die Bestätigung eines Trends, der als klassisches Beispiel eines Rückkopplungsmechanismus in der Natur gilt: Die Schnee- und Eisbedeckung der Arktis schmilzt, wodurch sich die Landfläche und das Meer darunter mehr als zuvor erwärmen. Das wiederum verstärkt die Schmelzvorgänge, und so weiter.

Die Arktis gehört zu den Weltregionen, in denen die Folgen des Klimawandels bereits sehr deutlich zu beobachten sind. Deshalb vermuten die Forscher, daß dieser Trend in Zukunft anhält, und prognostizieren für die Arktis einen der höchsten Temperaturzuwächse unter allen Weltregionen. Einige Forscher sagen bis zum Jahr 2100 eine gegenüber den heutigen Verhältnissen um 9 Grad Celsius höhere Durchschnittstemperatur voraus.

Diagramm: National Snow and Ice Data Center (NSIDC)

Ausdehnung des Meereises (in km²) in den arktischen Sommermonaten 2012, 2013 und im Durchschnitt der Jahre 1981 bis 2010
Diagramm: National Snow and Ice Data Center (NSIDC)

Der plötzliche Meereisschwund im September 2012 gibt Anlaß zu der Vermutung, daß sich die klimatischen Verhältnisse nicht linear weiterentwickeln werden. Wenn der finnische Wissenschaftler Riihela eine Albedoabnahme von 15 Prozent in den letzten 30 Jahren festgestellt hat, bedeutet das nicht, daß die Rückstrahlungsfähigkeit der arktischen Region in den nächsten 30 Jahren um weitere 15 Prozent abnehmen wird. Gemäß dem oben erwähnten Rückkopplungseffekt wäre eher mit einer Beschleunigung dieser Entwicklung zu rechnen.

Schon heute verlangt der Klimawandel den Arktisbewohnern eine Anpassung ihrer Lebensgewohnheiten ab. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, daß die Bevölkerung Europas von den Veränderungen im hohen Norden unberührt bleibt. Klimaexperten gehen davon aus, daß der Eisverlust in der Arktis Einfluß auf den Verlauf des Jetstreams hat, jene dynamische Luftströmung in rund zehn Kilometern Höhe, die sich großräumig mäandrierend von West nach Ost um den Globus bewegt und maßgeblich den Auf- und Abbau von Hoch- und Tiefdruckgebieten in Europa bestimmt. Eine eisfreie Arktis würde womöglich zu einer Abkühlung der hiesigen Breiten führen, da sich bei einer solchen Konstellation häufiger ein stabiles Hochdruckgebiet über Skandinavien ausbildet, durch das kalte Luftmassen von Ost nach West befördert werden. Die Wissenschaftler dürfen sich durch den kalten und ausgesprochen langen Winter 2012/2013 in ihrer Prognose bestätigt fühlen. [3]

Das linke Schwarzweiß-Foto zeigt einen riesigen Gletscher, das rechte Farbfoto den gleichen Gletscher, der sich weit zurückgezogen hat - Foto: Photograph Collection, National Snow and Ice Data Center/World Data Center for Glaciology

Muir-Gletscher, Alaska. Das linke Foto wurde am 13. August 1941 von Ulysses William O. Field, das rechte am 31. August 2004 von Bruce F. Molnia aufgenommen.
Fotos: Photograph Collection, National Snow and Ice Data Center/World Data Center for Glaciology

Darüber hinaus hält im Permafrost der Polarzone etwas seinen Dauerwinterschlaf, das eine Gefahr für das globale Klima darstellt: Methan. Ob dieses hochwirksame Treibhausgas nicht bereits angefangen hat, sich seiner frostigen Fessel zu entwinden und in die Erdatmosphäre zu entweichen, wird zur Zeit von Wissenschaftlern intensiv untersucht. Kürzlich berichtete eine internationale Forschergruppe im Wissenschaftsmagazin "Nature", daß die Methanfreisetzung in der Arktis als Folge des Klimawandels Kosten in Höhe von 60 Billionen Dollar bis Ende des Jahrhunderts verschlingen wird. Die Co-Autorin der Studie und Wirtschaftswissenschaftlerin Prof. Gail Whiteman von der Erasmus-Universität in Rotterdam betonte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk die überregionale Bedeutung der Vorgänge im hohen Norden:

"Unsere Studie dient einfach als erster Hinweis darauf, dass der Klimawandel in der Arktis in der ganzen Welt spürbar sein wird. Die Veränderungen hier sind nicht einfach nur schlecht für den Eisbären, sie sind schlecht für die Wirtschaft und die Gesellschaft überall auf dem Globus. Dieser Tatsache müssen wir viel mehr Aufmerksamkeit schenken." [4]

In der Studie selbst, die in "Spektrum der Wissenschaft" auf deutsch erschienen ist, wird auch zum möglichen Einfluß der Freisetzung des Methans, von dem 50 Milliarden Tonnen in Form von Hydraten am Meeresboden lagern, auf das Meereis spekuliert:

"Größere Methankonzentrationen in der Atmosphäre würden den Klimawandel weiter anheizen und den Wandel in der Arktis sogar noch beschleunigen: umso schneller würde sich das Meereis dann zurückziehen, wodurch weniger Sonnenlicht reflektiert werden würde, was schließlich auch den grönländischen Eisschild stärker zum Schmelzen brächte. Die Auswirkungen davon dürften auch fernab der Pole spürbar sein." [5]

Letztlich wäre die ganze Welt betroffen, wobei in dieser Studie noch nicht einmal berücksichtigt wurde, daß, wenn sich die Arktis derart massiv verändert, dies nicht isoliert von anderen Weltregionen geschieht, die ja zeitgleich dem Klimawandel unterworfen sind und ihrerseits auf die Arktis rückwirken, wie sie eben auch von den Entwicklungen dort betroffen sind. In Anlehnung an die Überlegungen des amerikanischen Meteorologen Edward N. Lorenz, demzufolge der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen kann, sollte man annehmen, daß dynamische Vorgänge wie das Verschwinden des arktischen Meereseises und die Ausdünstung von Methan aus dem auftauenden Permafrostboden bzw. die Gasfreisetzung aus Hydraten der polaren Schelfgebiete allemal globale Folgen haben werden. Dazu schreiben die Forscher laut "Spektrum der Wissenschaft":

"Diese globalen Folgen erscheinen in unseren eigenen Modellen recht groß, weil die Arktis Ozeane und das Klima essenziell beeinflusst. Die Kosten dieser Entwicklung werden vor allem Entwicklungsländer zu schultern haben: Sie werden am stärksten von Extremwetter, einer schlechteren öffentlichen Gesundheit und abnehmenden Ernteerträgen getroffen. Letztlich sollten sich aber alle Länder über den rasanten Wandel in der Arktis sorgen, obwohl sich die genauen Folgen weltweit zurzeit nicht vorhersagen lassen." [5]

In der Studie wird nicht näher darauf eingegangen, was es für die Entwicklungsländer bedeutet, wenn die Zahl der Extremwetterereignisse steigt, die Ernteerträge abnehmen und sich die Gesundheitsversorgung verschlechtert. Es läßt sich ausmalen, daß die Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft zur Einhaltung der sogenannten Millenniumsziele, die eine wirksame Bekämpfung unter anderem von extremer Armut und Hunger, hoher Kinder- und Müttersterblichkeit und globaler Umweltverschmutzungen vorsehen, sich unter den Bedingungen der zukünftigen Treibhauswelt ähnlich rasch verflüchtigen wie das arktische Eis unter dem Einfluß der verstärkten Absorbtion der Sonneneinstrahlung.

Foto: NOAA Climate Program Office, NABOS 2006 Expedition. CC-BY-2.0 Unported.

Pfannkucheneis, September 2006, Arktischer Ozean, nördlich von Westrußland. Wenn das Meereis taut und wieder zusammenfriert, ist die Eisdecke zwar geschlossen, aber vergleichsweise dunkel, so daß vermehrt Sonnenlicht absorbiert wird.
Foto: NOAA Climate Program Office, NABOS 2006 Expedition. CC-BY-2.0 Unported.

Fußnoten:
[1] http://www.nature.com/nclimate/journal/vaop/ncurrent/full/nclimate1963.html

[2] http://www.newscientist.com/article/dn23994-arctic-ice-grows-darker-and-less-reflective.html#.UgOz3eZdXNs

[3] http://www.awi.de/de/aktuelles_und_presse/pressemitteilungen/detail/item/jaiser_et_al/?cHash=2726e8051829010a77ca86c1ee0d8ca7

[4] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/forschak/2189681/

[5] http://www.spektrum.de/alias/klimawandel/warme-arktis-wird-teuer/1202015


Berichte und Interviews der Schattenblick-Redaktion zum Meereisminimum im September 2012 und die Folgen für die USA und Europa:

UMWELT → REPORT
BERICHT/028: Arktis warm, Europa kalt - Eisschmelze im polaren Norden (SB)
Meereis in der Arktis auf Rekord-Minimum geschrumpft
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umrb0028.html


INTERVIEW/034: Arktis warm, Europa kalt - Klima, Wärme, Strömungen (SB)
Interview mit Prof. Rüdiger Gerdes, Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0034.html

INTERVIEW/035: Arktis warm, Europa kalt - Indikator Meeresspiegel (SB)
Telefoninterview mit Prof. Anders Levermann, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0035.html

INTERVIEW/040: Arktis warm, Europa kalt - Dicke Luft und Schmelze satt (SB)
Interview mit Dr. Dirk Notz, Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0040.html


UMWELT → REDAKTION
KLIMA/519: Schmelze, Stürme, Schäden - arktische Extreme (SB)
Extremwetter-Ereignisse 2012 in der Arktis - Hurrikan Sandy, Eisschmelze auf Grönland und andere Phänomene
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/redakt/umkl-519.html


8. August 2013