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KLIMA/580: COP 21 - arktische Umbrüche mit globalen Folgen unvermeidlich (SB)


Der Griff zum Strohhalm: eine "Kleine Eiszeit" wird gebraucht

Die Folgen ausbleibender Klimaschutzmaßnahmen werden noch in Jahrhunderten ihre Wirkung entfalten


"Niemals zuvor hat eine einzige Generation die Zukunft so vieler kommender Generationen, Arten und Ökosysteme in ihren Händen gehalten", schreibt eine internationale Forschergruppe. Doch selbst wenn alle Staaten ihre Absichtserklärungen für zukünftige Klimaschutzmaßnahmen (INDCs - Intended Nationally Determined Contributions), die sie im Vorfeld des UN-Klimagipfels von Paris eingereicht haben, einlösten, werde nicht verhindert, daß in der Cryosphäre - dazu zählen alle Regionen mit Eis und Schnee, also Arktis, Antarktis und Hochgebirge - unumkehrbare Prozesse in Gang gesetzt werden. Deshalb sollten die Klimaschutzmaßnahmen sehr viel ambitionierter ausfallen, andernfalls sich das Zeitfenster für wirksames Handeln schließen werde.

Davor wird in der in diesem Monat veröffentlichen Studie "Thresholds and Closing Windows - Risks of Irreversible Cryosphere Climate Change" (Schwellenwerte und sich schließende Zeitfenster - Risiken eines unumkehrbaren Cryosphäre-Klimawandels) der in Burlington, US-Bundesstaat Vermont, ansässigen International Cryosphere Climate Initiative gewarnt. [1]

An der internationalen Studie sind als deutsche Beteiligung Ben Marzeion von der Universität Bremen, Julia Bolke vom Alfred-Wegener-Institut, Clara Burgard und Dirk Notz [2] vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg sowie Ricarda Winkelmann und Anders Levermann [3] vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung beteiligt.

Einige Regionen des Planeten steuern auf Verhältnisse zu, die im 2013 veröffentlichten Fünften Sachstandsbericht (AR 5) des Weltklimarats (IPCC - Intergovernmental Panel on Climate Change) mit Blick auf die Cryosphäre als ein gravierendes Ereignis, das jedoch mit geringer Wahrscheinlichkeit eintritt, bezeichnet wurden. Hier nun wird ausgehend vom AR 5 und aktuelleren Forschungsergebnissen festgestellt, daß wohl nur noch eine neue "kleine Eiszeit" einige der heutigen Hochgebirgsgletscher retten kann, von deren Schmelzwässern die Trinkwasserversorgung von Millionen Menschen abhängig ist. So ein drastischer Kälteeinbruch wäre auch vonnöten, um das Abschmelzen polarer Eisflächen zu stoppen, die letztlich den Meeresspiegel um vier bis zehn Meter "oder mehr" ansteigen lassen. Diese Schwellenwerte "rücken näher", heißt es in der Studie.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben berechnet, daß sich jenes Zeitfenster, in dem die Politik noch Maßnahmen beschließen kann, diese dramatische Entwicklung wenigstens teilweise zu verhindern, zwischen 2020 und 2030 schließen wird. Wobei jedoch bereits heute Prozesse angestoßen wurden, die auf jeden Fall ablaufen werden, nämlich die Versauerung der Ozeane, mit der Folge, daß marine Ökosysteme und Fischbestände verlorengehen. Nach 2030 würde es sehr, sehr viel schwieriger werden, einen Kurswechsel einzuleiten.

In der Studie werden fünf Schwellenbereiche genannt, in denen die Cryosphäre unaufhaltsame Entwicklungen einnehmen kann, die - das wird in der Studie besonders betont - von globaler Bedeutung wären: Verlust des Schelfeises und damit verwandt der Meeresspiegelanstieg; Versauerung der polaren Meere; Gletscherschmelze; Auftauen des Permafrosts; Schwund des arktischen Meereises.

Selbst wenn auf wundersame Weise die anthropogenen CO2-Emissionen von heute auf morgen eingestellt würden, sind einige Entwicklungen bereits angelaufen. Beispielsweise wird der Meeresspiegel in den nächsten rund 200 Jahren aufgrund der Eis- und Schneeschmelze sowie der physikalischen Ausdehnung der wärmeren Meere um mindestens einen Meter steigen. Der Zerfall des Westantarktischen Eisschilds könnte selbst bei entschlossenen Gegenmaßnahmen wohl nicht mehr gestoppt werden, heißt es. Dadurch würde der Meeresspiegel in den nächsten paar hundert Jahren um weitere drei bis vier Meter anschwellen.

Die INDCs, so sie denn verwirklicht werden, lassen die globale Durchschnittstemperatur gegenüber der vorindustriellen Zeit um voraussichtlich 2,7 bis 3,5 Grad Celsius steigen. Im Pariser Abkommen wird jedoch das 2,0-Grad-Ziel angestrebt und sogar der Wunsch geäußert, nach Möglichkeit das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen.

Im Unterschied zu den Berichten beispielsweise des Weltklimarats begrenzt die Studie den Blick nicht auf das Jahr 2100. Es wird davor gewarnt, daß der Mensch innerhalb der nächsten Jahrzehnte die Weichen für erdgeschichtliche Entwicklungen stellt, die teilweise erst in mehreren tausend Jahren eintreten, beispielsweise die Auflösung des riesigen ostantarktischen Eisschilds, was (in Verbindung mit anderen Eisverlusten zum Beispiel Grönlands) einen globalen Meeresspiegelanstieg von 60 Metern und mehr zur Folge hätte.

Es läßt sich denken, welche sozialen, politischen und kulturellen Verwerfungen damit einhergehen würden. Ganze Landstriche, die von vielen hundert Millionen Menschen bewohnt sind, werden von der Weltkarte verschwinden. Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern würden größtenteils zu Meeresboden.

Wie im Kapitel 2 der Studie beschrieben, trägt die Gletscherschmelze der Hochgebirge zur Zeit so viel zum Anstieg des Meeresspiegels bei wie der Verlust der Eisschilde. Zwar haben sich die Gletscher auch aufgrund der Erderwärmung seit der letzten Eiszeit zurückgezogen, aber in den letzten 50 Jahren ist der menschliche Einfluß, das heißt der Anteil des Menschen an der globalen Erwärmung, zum dominierenden Faktor der Schmelze geworden.

Der Gletscherschwund in den Nordanden sei nicht mehr aufzuhalten, und nur mit entschiedenen Maßnahmen, die weit über die INDCs hinausgingen, könnte zumindest ein Teil der Gletscher in Skandinavien, im westlichen Nordamerika und in Neuseeland erhalten bleiben. Und nur bei strikter Einhaltung der INDCs, das heißt, wenn die Treibhausgasemissionen im Jahr 2040 ihren Höhepunkt überschritten haben, besteht die Chance auf Erhalt einiger kleinerer Gletschergebiete im Himalaya, den südlichen Anden und im Kaukasus.

Es muß nicht erst zu dem weiter oben geschilderten Worst-case-Scenario eines Meeresspiegelanstiegs um mehrere Dutzend Meter kommen, damit große Migrationsbewegungen einsetzen. Was sonst sollten Millionen Menschen rund um den Globus machen, wenn die Gletscher, die ihre einzige oder hauptsächliche Trinkwasserquelle darstellen, verschwinden? Werden sie dann von den Bewohnerinnen und Bewohnern der begünstigteren Regionen mit offenen Armen aufgenommen oder wird man den Flüchtlingen - wie heute schon vielerorts in Deutschland - das Dach über dem Kopf anzünden?

Kapitel 3 der Studie problematisiert das Auftauen des Permafrosts. Rund ein Viertel der Landfläche auf der Nordhalbkugel der Erde ist permanent gefroren (zumindest in einigen Metern Tiefe, auch wenn die Oberfläche regelmäßig im Sommer auftaut). Im Permafrost sind gewaltige Mengen an organischem Kohlenstoff gebunden, der in Form von Methan und Kohlendioxid in die Atmosphäre entweichen würde, wenn er sich aufgrund der Erwärmung auflöst. Es sind jedoch ausgerechnet die arktischen Regionen, die sich gegenwärtig doppelt so schnell erwärmen wie der globale Durchschnitt!

Wenn die Menschheit das sogenannte 2-Grad-Ziel einhalten will, dürfen bis zum Jahr 2100 aus sämtlichen denkbaren Quellen nur noch 275 Gigatonnen (Gt) Kohlenstoff in die Atmosphäre entlassen werden. (Rund 70 - 80 Prozent der heute bekannten Reserven an fossilen Energieträgern müßten in der Erde bleiben.) Aber allein 50 Gt Kohlenstoff würden entweichen, wenn der Permafrost auch nur zu 30 Prozent auftaut! Und das würde er bereits, selbst wenn es gelänge, die globale Durchschnittstemperatur um nicht mehr als 1,5 Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit ansteigen zu lassen!

Die arktische Meereisfläche, die in Kapitel 4 abgehandelt wird, ist zwischen 1950 und 2000 auf die Hälfte geschrumpft. Zudem ist das Eis dünner und brüchiger geworden. In den letzten 15 Jahren hat sich der Eisverlust sogar noch beschleunigt, wobei es natürlich immer wieder Jahre gibt, in denen das Meereisminimum größer ist als im Vorjahr. Eine offene, dunkle Wasserfläche nimmt jedoch deutlich mehr Wärmestrahlung von der Sonne auf als eine weiße Eisfläche, die das Licht stark reflektiert. Das hat zur Folge, daß sich das Polarmeer tendenziell erwärmt und von einem Jahr zum nächsten mehr Eis geschmolzen wird.

Zu guter Letzt befaßt sich die Studie mit der Versauerung der polaren Meeresgebiete aufgrund steigender CO2-Konzentrationen in der Atmosphäre und den verheerenden Folgen für die Biodiversität in den arktischen Gewässern. Die Versauerung findet in einer so hohen Geschwindigkeit statt, daß sich die Meeresorganismen nicht schnell genug anpassen können.

Die Studie erhebt nicht den Anspruch, neue Erkenntnisse zur Entwicklung der Cryosphäre unter dem Einfluß der globalen Erwärmung bieten zu können. Sie faßt jedoch die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu jenen fünf Schwellenwerten gut zusammen und verdeutlicht die Dringlichkeit, mit der entschiedene Maßnahmen gegen die globale Erwärmung ergriffen werden müssen, um wenigsten einige der schwerwiegendsten Folgewirkungen heutiger politischer Entscheidungen für zukünftige Generationen abzumildern.


Fußnoten:

[1] http://iccinet.org/wp-content/uploads/2015/11/ICCI_thresholds_v6b_151203_high_res.pdf

[2] Schattenblick-Interview mit Dr. Dirk Notz:
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0040.html

[3] Schattenblick-Interview mit Prof. Anders Levermann:
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0035.html

27. Dezember 2015


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