Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → REDAKTION


KLIMA/627: Zum Beispiel Diesel (SB)


Gipfelschäume


Am Beispiel der sogenannten Diesel-Affäre zeigt sich, daß Grenzwerte für Umweltschadstoffe eine politische Entscheidung sind. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, es ginge darum, so viele Menschen wie möglich von gesundheitsgefährdenden Belastungen mit Stickstoffoxiden, Feinstäuben, bodennahem Ozon und anderen Luftschadstoffen freizuhalten. Statt dessen wägen die politischen Entscheidungsträger ab, wie viele Menschen statistisch jedes Jahr vorzeitig sterben dürfen und wie sehr ein absolutes Fahrverbot die in internationaler Konkurrenz stehenden, profitorientierten Autounternehmen und die übrige Gesellschaft schädigen würde. Niemand vermag zu sagen, welche Menschen länger leben würden, wenn sie nicht durch die Abgase von Diesel-Fahrzeugen (und selbstverständlich allen anderen Quellen obengenannter Schadstoffe, also Benziner, Industrie, Landwirtschaft, Kraftwerke, Flugverkehr ...) geschädigt worden wären. Aber nur weil die Betroffenen lediglich als Bestandteil einer statistischen Größe existieren, bedeutet das nicht, daß nicht jeder einzelne von ihnen Namen und Gesicht trüge.

Auch das Gipfeltreffen am Montag zwischen der Bundesregierung und Vertretern von Städten und Bundesländern zur städtischen Luftverschmutzung hat ergeben, daß in Zukunft bestenfalls etwas weniger Menschen an Dieselschadstoffen sterben als zuvor. Einig war man sich darin, keine Fahrverbote auszusprechen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat weitere 500 Millionen Euro für die Kommunen in Aussicht gestellt, so daß der Fonds nun auf eine Milliarde Euro aufgestockt wurde. Das Geld, das Merkel zugesagt hat, hat ihr Finanzminister zuvor von den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern eingesammelt. Diese sind auch mehrheitlich davon betroffen, daß die Luft in den Städten gesundheitsschädigend ist.

Vizekanzler Sigmar Gabriel appellierte an die Autoindustrie, sich mit mehr als den bislang zugesagten 250 Millionen Euro an dem Fonds zu beteiligen. Merkel zufolge soll das Geld schon im nächsten Haushalt zur Verfügung stehen und beispielsweise für die Anschaffung von Elektrobussen und -autos verwendet werden. Zudem will sie eine Koordinierungsstelle einrichten, die über förderfähige Projekte in den Städten berät.

Im Vorfeld des Gipfels hatte der Kieler Oberbürgermeister Ulf Kämpfer gefordert, daß die Kommunen nicht mit dem Problem allein gelassen werden, und sein Parteikollege Gabriel hat dann auch auf dem Gipfel nahezu wortgleich erklärt, es sei wichtig, daß die Städte und Gemeinden in Deutschland nicht mit dieser Aufgabe alleine gelassen werden. Doch auch auf dem inzwischen zweiten Dieselgipfel hat anscheinend der unausgesprochene Konsens unter den Teilnehmenden geherrscht, daß einige der von den Abgasen betroffenen Menschen von der Administration im Stich gelassen werden.

Nach Berechnungen der Wissenschaftlerin Susan Anenberg von der Organisation Environmental Health Analytics (LLC) in Washington und ihres Teams sind allein in der Europäischen Union und allein im Jahr 2015 11.400 Menschen vorzeitig verstorben, weil die Autohersteller nicht die Abgasgrenzwerte bei Dieselfahrzeugen eingehalten haben. Weltweit waren es rund 38.000. Das betrifft nur die "zusätzlich" vorzeitig Verstorbenen. Wie gesagt, Grenzwerte sind politisch, das heißt, auch ohne die betrügerische Software der Autohersteller - sie hat dafür gesorgt, daß die Autos nur auf dem Prüfstand die Abgasnormen eingehalten haben - und bei ordnungsgemäßem Betrieb hätten weltweit 69.600 Personen vorzeitig das Zeitliche gesegnet. Das ist die von der Politik akzeptierte Zahl an vermeidbaren Todesfällen bei Einhaltung der Abgasgrenzwerte für Stickstoffoxide wie Stickstoffmonoxid (NO) und Stickstoffdioxid (NO2).

Im vergangenen Jahr wurde an mehr als jeder zweiten verkehrsnahen Meßstation in Deutschland im Jahresmittel der Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft überschritten. Dieselabgase fördern die Erkrankung von Atemwegen und des Herz-Kreislauf-Systems und erhöhen das Schlaganfallrisiko. Asthmatiker, Kinder, ältere Menschen und beispielsweise berufsbedingt vorbelastete Personen zählen zu den Hauptrisikogruppen. Stickstoffoxide wirken nicht nur unmittelbar schädigend, sondern auch mittelbar. Denn sie fördern die Bildung von bodennahem Ozon, besonders an heißen Tagen mit klarem Himmel. Dieser sogenannte Sommersmog führt zu ähnlichen Belastungen des Organismus wie die Stickstoffoxide selber. Neueren Berechnungen des Stockholm Environment Institute (SEI) der Universität York zufolge sterben weltweit rund eine Million Menschen (älter als 30 Jahre) vorzeitig aufgrund der langfristigen Exposition mit bodennahem Ozon (Environmental Health Perspective; DOI: 10.1289/EHP1390).

Außerdem haben Tests von Professor Bernhard Hofko vom Institut für Verkehrswissenschaften der Technischen Universität Wien und seinem Team gezeigt, daß hohe Konzentrationen von Stickstoffoxiden den Asphalt schädigen. Sie beschleunigen den Alterungsprozeß drastisch, so daß der Straßenbelag versprödet. Kein Gegenstand der Untersuchung war, daß hierdurch der mechanische Abrieb beschleunigt wird und dies einer der Faktoren für die Feinstaubbelastung ist. Feinstaub wiederum gilt noch vor den Stickstoffoxiden als gefährlichster Luftschadstoff in Städten.

Gegenüber Dieselfahrzeugen stellen Benziner gewiß keine problembefreite Alternative dar, da auch durch sie Schadstoffe produziert werden, beispielsweise Feinstaub und das klimawirksame CO2. Das Unbehagen, das einen befallen könnte, wenn man sich vor Augen führt, was alles in der heutigen auf hohe Mobilität ihrer Mitglieder setzenden Gesellschaft zu körperlichen Schädigungen führen kann, könnte eine Gelegenheit sein, an dieser Stelle genau nicht dem lösungssuchenden Reflex folgend eine weitere Ressourcenverbrauchstechnologie wie beispielsweise Elektromobilität zu propagieren. Denn mit Elektrofahrzeugen würden die Probleme verlagert und vermehrt andere Schadstoffe in Verkehr gebracht, die dann eben an anderer Stelle ihre Schadwirkung entfalten.

Die Frage, zu wessen Nutzen Menschen automobil sein sollen und warum sie darin einen so hohen Wert sehen, daß sie ihre körperliche Unversehrtheit und die ihrer Mitmenschen sowie der Tiere und Pflanzen (u.a. Nekrosenbildung, vorzeitiges Altern, Kümmerwuchs) riskieren, wird bei der politischen Abwicklung des sogenannten Dieselskandals gar nicht erst gestellt. Unter den gegenwärtig vorherrschenden Produktionsbedingungen bedarf es der flexiblen, mobilen Menschen, die Tag für Tag in einer hochgradig strukturierten Verkehrsordnung individuell oder per öffentlicher Fortbewegungsmittel von und zur Arbeit manövriert werden und die darüber hinaus auch in der zugeteilten Freizeit zwecks Regeneration ihrer Arbeitskraft mobil sein wollen.

5. September 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang