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KLIMA/664: CO2 - Remission der Pflanzen ... (SB)



Die Zahl der wissenschaftlichen Studien, in denen vor den vermutlich katastrophalen Folgen fortgesetzter Treibhausgasemissionen für große Teile der Menschheit gewarnt wird, ist Legion. Dennoch bewegt sich auf politischer Ebene viel zu wenig. Die Appelle der Wissenschaft werden nur begrenzt aufgegriffen und kommt einmal ein internationales Klimaschutzabkommen wie das im Jahr 2015 in Paris zustande, wird dies überschwenglich als Kehrtwende der Menschheit in Sachen Klimaschutz abgefeiert. Inzwischen dürfte auch bei den damals begeisterten Menschen Ernüchterung eingetreten sein. Entscheidende Trends wie der des Anstiegs der globalen Durchschnittstemperatur, der Zunahme der CO2-Konzentration in der Erdatmosphäre, der fortgesetzten Gletscherschmelze und wachsenden Intensität von Naturkatastrophen wurden bislang nicht gebrochen und werden es auch in naher Zukunft nicht, soweit sich das aus heutiger Sicht beurteilen läßt.

Eine jener Studien erschien kürzlich im Wissenschaftsmagazin "Science" [1]. Demnach hat ein globaler Temperaturanstieg von vier bis sieben Grad seit der letzten Kaltzeit dramatische Veränderungen in der Pflanzenwelt ausgelöst. Diese Erkenntnis liefert Hinweise darauf, was uns in den nächsten 100 bis 150 Jahren bei ähnlichen Temperaturerhöhungen bevorstehen könnte, warnt die internationale, 42köpfige Forschergruppe.

In Australien beginnen wir bereits, als Folge des Klimawandels erste Warnhinweise auf weitreichende Umbrüche in der Vegetation zu beobachten, sagte der an der Studie beteiligte Professor Simon Haberle von der Abteilung für Archäologie und Naturgeschichte der Australischen Nationaluniversität (ANU). Ausgedehnte und schnelle Veränderungen der Ökosysteme werden wahrscheinlich größere Folgewirkungen für die national wichtigen Ökosystemdienstleistungen wie Biodiversität, Kohlenstoffspeicher und Erholungen zeitigen [2].

In der Studie wurden vergangene Veränderungen der Vegetation an 594 Standorten auf allen Kontinenten außer der Antarktis untersucht. Dazu diente der Forschergruppe unter anderem die Methode der Pollenanalyse, denn Pollen bieten einen geeigneten Vergleichsmaßstab zur Beschreibung der Ausbreitung von Pflanzen und Veränderungen der Landschaft. Eine zentrale Erkenntnis aus der Studie lautet, daß diejenigen Landschaften die stärksten Veränderungen ihrer Vegetation erlebten, die sich auch am stärksten erwärmt hatten. Das sind Nordamerika, Europa und Südamerika, also Regionen, die zuvor am weitesten vergletschert gewesen waren.

Sicherlich ist es nicht unproblematisch, die landschaftlichen Veränderungen zweier unterschiedlicher Klimate und außerdem sehr unterschiedlicher Ausgangsbedingungen miteinander zu vergleichen. Vor 21.000 Jahren befand sich die letzte Kaltzeit (in Norddeutschland: Weichsel-Kaltzeit) auf dem Höhepunkt der Vereisung. Ganz Skandinavien und große Gebiete Norddeutschlands und die Alpen waren von Eis bedeckt. Davor gelagert befand sich eine Permafrostzone, in der Vegetation kaum Fuß fassen konnte. Nach und nach hatte sich die Erde dramatisch erwärmt. Das Eis zog sich zurück, so daß neuer Besiedlungsraum für Pflanzen freiwurde. Gleichzeitig löste das Abschmelzen der Eismassen gewaltige Überschwemmungen aus. Die hauptsächlichen Arten der Verwitterung und Erosion waren glazial und äolisch, also durch Frost und Wind bestimmt. Heute dominiert die fluviale Erosion, also die Abtragung durch Wasser und Fließgewässer. Daß die klimatische und geomorphologische Entwicklung von der Kaltzeit zur gegenwärtigen Warmzeit einen enormen Einfluß auf die Ausbreitung und Artenzusammensetzung der Vegetation ausübte, sollte nicht verwundern.

Nun wird in der von US-amerikanischen und russischen Institutionen geförderten Studie diese Phase der globalen Erwärmung mit jener verglichen, die seit Beginn der Industrialisierung vor rund 200 Jahren zu beobachten ist und zu der anthropogene Treibhausgasemissionen als wesentlicher Zusatzfaktor beigetragen haben. Voraussichtlich werden sie die globale Erwärmung auch in den nächsten 100 bis 150 Jahren forcieren. Während der letzten Kaltzeit lag die Durchschnittstemperatur rund vier bis sieben Grad Celsius niedriger als heute. Das Pflanzenwachstum besitzt heute vollkommen andere Ausgangsbedingungen.

Das vorweggeschickt kann man sagen, daß in der Studie eine für die nahe Zukunft der Menschheit wichtige Frage aufgeworfen wird: Wie verändert sich die Vegetation bzw. Landschaft in einer wärmeren Welt und mit einem höheren Gehalt an CO2 in der Atmosphäre?

Da sich die Forschergruppe der Problematik ihrer vergleichenden Untersuchung gewahr ist, läßt sie ihr Computermodell verschiedene Szenarien zu den möglichen Treibhausgasemissionen auswerfen. Die Untersuchungsergebnisse seien ein weiterer "Weckruf", daß wir unverzüglich handeln und uns einer CO2-emissionsfreien globalen Wirtschaft zuwenden müssen, sagt ANU-Wissenschaftlerin Dr. Janelle Stevenson.

Das ist nicht übertrieben, wenn man bedenkt, daß die Forschergruppe annimmt, daß die gegenwärtige globale Erwärmung in den nächsten 100 bis 150 Jahren einen ähnlich dramatischen Wandel der Vegetation auslösen könnte wie in den zehn bis zwanzig Jahrtausenden seit der letzten Kaltzeit. Die Entwicklung läuft also unter menschlichem Einfluß um ein Vielfaches schneller ab. Das kann nur verhindert werden, wenn die Treibhausgasemissionen reduziert werden, erklären die Forscherinnen und Forscher.

Angesichts der eingangs erwähnten Vielzahl an solchen und ähnlichen Appellen und des - gemessen an notwendigen Maßnahmen - viel zu geringen Widerhalls in der Politik stellt sich die Frage, ob die Wissenschaft nicht längst die bequeme Rolle angenommen hat, Warnungen auszusprechen, aber keine Schritte darüber hinaus zu unternehmen. Reicht die Beteiligung der Wissenschaft an dieser Scharade so weit, daß sie, finanziert von den herrschenden Kräften, diesen deshalb nicht ernsthaft auf die Füße tritt?

Jedenfalls kann sich die Forschung in einem Punkt hundertprozentig sicher sein: Ihre Botschaft ist bei der Politik angekommen. Es bestehen keinerlei Kommunikationsprobleme, die eventuell den Umstand verschleiern könnten, daß sich die globalen Natursysteme auf katastrophale Verhältnisse zubewegen, unter denen in Zukunft Hunderte Millionen, vielleicht sogar Milliarden Menschen leiden werden. Die Politik hat verstanden - aber tut nichts.

Sich das Ausmaß dieses Problems vor Augen haltend könnte die Wissenschaft da nicht auf die Idee kommen, weitere Schritte zu ergreifen? Theoretisch stehen ihr durchaus mehr Möglichkeiten der gesellschaftlichen Einflußnahme zur Verfügung, als zum wiederholten Male Studien brisanten Inhalts zu veröffentlichen, offene Briefe an die Politik zu richten und ähnliches mehr. Beispielsweise könnten sich die an der Wissenschaft Beteiligten der weiteren Zusammenarbeit mit der Politik verweigern, solange diese nicht die als zwingend erforderlich angesehenen Maßnahmen des Klimaschutzes ergreift.

Nun würde eine einzelne Person, die ihre Arbeit niederlegt oder, alternativ dazu, fortan nur noch an der Lösung des Klimaproblems arbeitet, nicht viel ausrichten. Man könnte aber zum Beispiel eine Initiative starten, bei der alle Interessierten zusagen, ihre Arbeit an einem bestimmten Stichtag niederzulegen, also einen wilden Streik durchzuführen, bis daß sie glaubwürdige Zusicherungen erhalten oder, noch besser, konkrete Maßnahmen des Klimaschutzes ergriffen wurden.

Der Klimawandel wäre dann kein wissenschaftliches "Thema" mehr, zu dem irgendwelche Studien veröffentlicht werden, sondern ein ungelöstes Menschheitsproblem, das die volle Konzentration eines möglichst großen "brain pools" und nicht zuletzt eine gelebte Praxis (Senkung des Ressourcenverbrauchs zum Beispiel) erfordert. Sicherlich sind noch andere Initiativen eines entschlosseneren Klimaschutzes denkbar - was wäre eine Wissenschaft wert, der dazu nicht noch mehr einfiele?


Fußnoten:

[1] http://science.sciencemag.org/content/361/6405/920

[2] https://phys.org/news/2018-08-vegetation-hint-dire-future.html

4. September 2018


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