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KLIMA/752: Erderwärmung - an den Rand der Unerträglichkeiten ... (SB)



Mit jedem weiteren Grad globaler Erwärmung werden eine Milliarde Menschen ihre Heimat verlieren oder in unerträglich heißen Regionen leben müssen. Das ist das Ergebnis einer neuen wissenschaftlichen Studie zu Veränderungen des menschlichen Lebensraums in Zeiten des Klimawandels. Sollten die Treibhausgasemissionen weiter steigen, wird innerhalb der nächsten 50 Jahre ein Drittel der Menschheit in Zonen leben, die so heiß sind wie heute die heißesten Gebiete der Sahara. Die sozialen Folgen dieser Entwicklung wären drastisch, berichtet eine internationale Forschergruppe um Marten Scheffer von der Universität Wageningen in den Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS). [1]

Ein Großteil der Menschheit lebt in einer Klimanische. Das typische menschliche Habitat weist Durchschnittstemperaturen zwischen 6 und 28 Grad Celsius, im Mittel von 11 bis 15 Grad C auf. An die gemäßigten Temperaturen sind nicht allein die Wohnverhältnisse angepaßt, sondern auch Ackerbau, Viehzucht und selbst die nichtagrarische Produktion.

Kleinere Teile der Menschheit, beispielsweise die Inuit im Hohen Norden und die Tuareg in der Sahara, leben in extremeren Verhältnissen nach unten wie nach oben. Gegenwärtig herrscht auf nur 0,8 Prozent der Landfläche eine Durchschnittstemperatur von 29 Grad C oder höher. Das dürfte sich im Laufe des Klimawandels noch innerhalb dieses Jahrhunderts ändern.

Vor rund 11.700 Jahren endete die letzte Eiszeit. Anschließend haben sich die Gletscher zurückgezogen und Landflächen freigegeben, bzw. Landschaften aus Erosionsablagerungen neu geschaffen. Die norddeutsche Tiefebene ist hierfür ein Beispiel. Obschon sich seit Ende der Eiszeit das Klima der Erde stark gewandelt hat, so die Forscher, werden die nächsten 50 Jahre stärkere Verschiebungen der von Menschen bevorzugten Klimazone mit sich bringen als in den letzten 6.000 Jahren. Vorausgesetzt, es gelingt nicht, den Anstieg der Treibhausgasemissionen zu beenden.

Noch im moderatesten Szenario, das die Forscher durchgerechnet haben, fallen 1,2 Milliarden Menschen aus der bevorzugten Klimazone heraus. Würde sich die Erde weiter erwärmen, würde diese Zone schrumpfen und sich verlagern. Das würde die Menschen nötigen, sich den neuen Klimabedingungen anzupassen oder aber zu migrieren.

In die Klimasimulationen flossen nicht nur physikalische Parameter ein, sondern auch demographische Faktoren wie das Bevölkerungswachstum. Das findet nicht gleichmäßig verteilt über die gesamte Erde statt, sondern vor allem in Afrika und Asien, und zwar in jenen Regionen, die sich besonders stark erhitzen werden. Ein globaler Temperaturanstieg von drei Grad C gegenüber der vorindustriellen Zeit (von denen schon 1,1 Grad C in Anspruch genommen wurden) bezieht sich sowohl auf die Wasser- als auch Landfläche. Da die Erde zu zwei Dritteln von Wasser bedeckt ist und sich die Meere nicht so schnell und so stark erwärmen wie das Land, läge in einer "3-Grad-Welt" des Jahres 2070 der durchschnittliche Temperaturanstieg für die Mehrheit der Menschen bei 7,5 Grad C. Dann würden in Indien 1,2 Mio. Menschen in extremer Hitze leben, in Nigeria 485 Mio. und in Pakistan, Indonesien und Sudan jeweils mehr als 100 Mio.

Solche Klimasimulationen sind Projektionen, keine Prognosen. Wie sich das Klima entwickeln wird und wie die Menschen darauf reagieren werden, weiß niemand. Aber Berechnungen bilden nun mal die Grundlage für politische Entscheidungen, selbstverständlich nicht nur hinsichtlich der klimatischen Entwicklung.

Der Versuch, sich auf kommende Ereignisse vorzubereiten, so daß sie nicht überraschend eintreten, stand bereits am Beginn der Landwirtschaft vor 12.000 Jahren und dem der Feuernutzung vor mindestens einer Million Jahren. Ob dieses vorausschauende Handeln nicht nur Annehmlichkeiten, sondern auch schwerwiegende Abhängigkeiten mit sich gebracht hat, wäre an anderer Stelle zu diskutieren. Entscheidend ist hier, daß schon seit Jahren in der Klimaforschung Untersuchungen angestellt werden, die zu ähnlich lautenden Ergebnissen gelangen wie die erwähnte Studie. Nicht zuletzt veröffentlicht der Weltklimarat (IPCC) alle paar Jahre umfangreiche Syntheseberichte zur Entwicklung des Klimas.

Zu bedenken ist weiterhin, daß sich in den letzten rund 20 Jahren die reale Klimaentwicklung meist in der Nähe der Worst-case-Szenarien, die während dieser Zeit erstellt worden waren, bewegt hat. Die Annahme, daß sich die Erde um drei Grad C gegenüber der vorindustriellen Zeit erwärmen könnte, ist also nicht übertrieben. Im Gegenteil. Die gegenwärtigen menschengemachten Treibhausgasemissionen (vor Ausbruch der Sars-CoV-2-Pandemie) lassen eine drei bis vier Grad C wärmere Welt erwarten.

Nimmt man das Verhalten der sogenannten Staatengemeinschaft im Umgang mit der aktuellen Pandemie als Maßstab - Hamstern lebensnotwendiger Schutzkleidung auf hohem Niveau - oder generell das Einpferchen von Flüchtenden in Lagern und das Errichten meterhoher Grenzzäune, um Menschen daran zu hindern, in klimatisch und ökonomisch vorteilhaftere Regionen zu migrieren, kommt man nicht umhin festzustellen, daß die hier geschilderte potentielle Erderwärmung ein enormes Konfliktpotential birgt, das sich womöglich in genozidalen Konsequenzen entladen wird.


Fußnote:

[1] https://www.pnas.org/content/pnas/early/2020/04/28/1910114117.full.pdf

6. Mai 2020


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