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KLIMA/773: Kurz nach zwölf ... (SB)



In einigen Weltregionen befindet sich das Klima bereits in einem Zustand, den die Wissenschaft vor zehn, zwanzig Jahren noch unter dem Titel "schlimmst mögliches Szenario" beschrieben hatte. Heute laufen in manchen Natursystemen sogar Entwicklungen ab, die jene Berechnungen übertreffen und gänzlich neue Maßstäbe für Geschwindigkeit und Ausmaß des Klimawandels setzen.

Damals hieß es, der Eintritt des "worst case scenario" unter den Computersimulationen könne noch verhindert werden, sofern die Politik nicht zögert, die erforderlichen Maßnahmen zur Senkung der Treibhausgasemissionen zu ergreifen. Das aber wurde versäumt, und so werden die Appelle an die Politik immer dringlicher. Einige Fachleute, die sich mit Klimaforschung befassen, haben bereits den traditionell "neutralen" Wissenschaftsbetrieb verlassen und angefangen, sich politisch zu betätigen. Sie begehen zivilen Ungehorsam und führen Aktionen durch, die bis dahin zivilgesellschaftlichen Organisationen vorbehalten waren.

Seit Jahren befindet sich die Erde im Weiter-so-wie-bisher-Szenario, und die Entwicklung wird seitens der politisch Verantwortlichen immer mehr in diese Richtung getrieben. Dabei erfährt die Arktis den stärksten Temperaturanstieg, aber auch aus der Antarktis werden folgenschwere Entwicklungen gemeldet. Die Berichte darüber hinterlassen vielleicht nicht so tiefe Eindrücke wie die aus den gegenwärtigen Katastrophengebieten rund um den Erdball, wo Vieh in der Sonne verdorrt, ganze Landstriche unter Wasser stehen oder Feuerwehrleute haushohe Waldbrände bekämpfen. Aber von ihren Schadensfolgen her laufen in den Polregionen der Erde zu diesem Zeitpunkt Entwicklungen ab, die das Gesicht der Erde von morgen noch weitreichender bestimmen werden, als es die aktuellen Katastrophenbilder wiederzugeben vermögen. Naturkatastrophen könnten vielerorts zur neuen Normalität werden.

Ökonomisch an einer Fortsetzung dieser Not interessierte oder dem Klimawandel gegenüber ignorante Kreise versuchen, die Warnungen pauschal als "Klimaalarmismus" abzutun. Aber erstens darf man wohl annehmen, dass die gleichen Menschen froh wären, würde die Feuerwehr auf einen Alarm hin anrücken, falls das eigene Haus zu brennen anfinge. Zweitens bleibt festzustellen, dass das eindringliche Alarmschlagen und Warnen vor den Klimawandelfolgen erst nach vielen Jahren an Schärfe und Breite zugenommen hat, nämlich nachdem sich zeigte, dass die Regierungen untätig bleiben und statt dessen so tun, als brenne das Haus gar nicht. Nein, mehr noch, nachdem klar wurde, dass sie dem Brand weitere Nahrung zuführten.

Im übrigen wird mit dem Suffix "-ismus" bei Alarmismus anderen Menschen eine Geisteshaltung oder Glaubenseinstellung in Klimafragen unterstellt, was schon putzig ist, denn wenn es darum geht, jeder Zeit und ohne zu zögern wissenschaftsbasierte technologische Produkte in Anspruch zu nehmen (Auto fahren, Urlaubsorte mit dem Flugzeug aufsuchen, Strom aus Elektrizitätskraftwerken beziehen, etc.), jene "Klimawandelverharmloser" offenbar blindes Vertrauen in die Wissenschaft haben. Aber hinsichtlich der Klimafragen, da geben sie sich plötzlich skeptisch und wähnen sich als schlauer.


Waldbrände auf und hinter mehreren Hügelketten, die Sonne scheint grellrot durch den Rauch - Foto: Forest Service, USDA, InciWeb - Incident Information System, Public domain, via Wikimedia Commons

Six Rivers Lightning Complex, Kalifornien, 9. August 2022
Foto: Forest Service, USDA, InciWeb - Incident Information System, Public domain, via Wikimedia Commons

Die gegenwärtig beschleunigt ablaufenden Ereignisse wie der Eisverlust von Grönland, das Schrumpfen und Ausdünnen der arktischen Meereisfläche und die Gletscherschmelze in der Westantarktis sind zugleich Begleiterscheinungen des Klimawandels wie auch dessen Verstärker. Es gibt also gute Gründe, diese Regionen unter intensiver Beobachtung zu halten. In jüngster Zeit wurde eine Reihe wissenschaftlicher Artikel veröffentlicht, die zeigen, dass auch in der Ostantarktis Prozesse mit einer Geschwindigkeit angelaufen sind, wie man sie in früheren Klimasimulationen kaum für möglich gehalten hat. Beispielsweise hat sich zur Überraschung eines Forschungsteams vom südkalifornischen NASA Jet Propulsion Laboratory (JPL) herausgestellt, dass durch das sogenannte Kalben doppelt so viel Eis von der Schelfeiskante der Antarktis abbricht wie bislang berechnet. Laut einer von "Nature" (10. August 2022) herausgebrachten Untersuchung beträgt der Massenverlust durch das Kalben seit 1997 nicht 6 Mio., sondern 12 Mio. Tonnen.

Demnach ist der Eisverlust so groß, dass die Antarktis in diesem Jahrhundert niemals mehr einen Zustand wie vor dem Jahr 2000 annehmen wird, welche Klimaschutzmaßnahmen auch immer ergriffen werden. Es ist damit zu rechnen, dass in den nächsten ein, zwei Jahrzehnten von den größten Schelfeisgebieten der Antarktis riesige Stücke abbrechen werden. Zwar würde sich das nicht unmittelbar auf den Meeresspiegel auswirken, da die teils kilometerdicken und mehrere hundert Kilometer breiten Schelfeismassen auf dem Wasser schwimmen. Doch erfüllt das Schelfeis die Funktion eines Propfens. Wenn dieser schrumpft oder abbricht, wie in der erwähnten Studie beschrieben, werden die dahinterliegenden Gletscher der Antarktis um so schneller ins Meer fließen. Damit würde sich dann der globale Meeresspiegel deutlich erhöhen.

In einer weiteren Studie des JPL, in der ebenfalls Daten in bislang unerreichter Menge und Präzision eingegangen sind, wird festgestellt, dass vergleichsweise warmes Meerwasser unterhalb der Gletscher viel tiefer ins Innere des Kontinents vorgedrungen ist, als man bislang festgestellt hatte. Dadurch werden weiter landeinwärts liegende Gletscher von ihrer Sohle her aufgeweicht, so dass sie schneller abfließen können, berichteten JPL-Forscher Johan Nilsson und sein Team. Sie veröffentlichten im Fachblatt "Earth System Science Data" das Ergebnis von Berechnungen zur sogenannten Massenbilanz der Antarktis. (10. August 2022)

Zu diesen Ermittlungen passen die aktuellen Satellitendaten des Copernicus Climate Change Service (C3S). Demnach erreichte das antarktische Meereis im Juli 2022, also im tiefsten Winter auf der Südhalbkugel, eine Ausdehnung von 15,3 Mio. km². Damit blieb es 1,1 Mio. km² bzw. 7 Prozent unter dem Durchschnitt der Jahre 1991 - 2020. Noch nie seit Beginn der Satellitenbeobachtung vor 44 Jahren sei in einem Juli die Fläche des antarktischen Meereises so gering gewesen wie in diesem Jahr. Bereits im Juni war ein Rekordminimum registriert worden, und der August verzeichnete noch immer die zweitkleinste jemals gemessene Meereisausdehnung.

Die Fläche des antarktischen Meereises ist jahreszeitlich großen Schwankungen unterworfen. Im Südsommer schrumpft sie stark, im Südwinter vergrößert sie sich dramatisch. Zur Verdeutlichung von Trends wird deshalb auf solche Monatsvergleiche zurückgegriffen.

Auf eine bedenkliche, da vermutlich länger anhaltende Veränderung der Verhältnisse in der Antarktis sind Laura Herraiz-Borreguero von der Universität von Tasmanien und Alberto Naveira-Garabato von der Universität von Southampton gestoßen. Sie haben Temperaturdaten vom Aurora-Subglazialbecken, das unterhalb des ostantarktischen Wilkes-Lands liegt, ausgewertet. Dort, in 400 Meter Meerestiefe, befindet sich die Grenze, an dem das Schelfeis auf dem Untergrund aufliegt, die sogenannte Grundlinie.

Demnach hat sich dort das Meer seit Beginn der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts um bis zu zwei Grad Celsius erwärmt. Das schwere, kalte Wasser wird nach und nach durch die wärmere Meeresströmung ersetzt. Dadurch taut diese Region schneller auf, und die Grundlinie wird immer weiter ins Innere der Antarktis verlegt. Ursache des Phänomens ist offenbar eine Verlagerung der antarktischen Ringströmung, die normalerweise verhindert, dass das vergleichsweise wärmere Wasser aus dem südlichen Indischen Ozean bis an die Schelfgebiete heranströmt. Die Ringströmung bestimmt auch die Grenze zwischen Ost- und Westwindzonen. Herraiz-Borreguero und Naveira-Garabato berichteten in "Nature Climate Change" (2. August 2022), dass diese Grenze binnen zwanzig Jahren (1990 - 2010) um 200 Kilometer nach Süden gewandert ist. Erklärt wird der Effekt damit, dass in Folge des Klimawandels der Temperaturunterschied zwischen den polaren und subpolaren Breiten abgenommen hat.

Bei der Verlagerung der warmen Meeresströmung hat man es mit einem jener Phänomene zu tun, die im System angelegt sind und nicht von heute auf morgen enden werden. In diesem Fall spiegeln sie Verhältnisse wider, die schon vor einigen Jahrzehnten eingeleitet wurden. Ein komplettes Abtauen des Eisschilds vom Aurora-Subglazialbecken, das nahezu vollständig unterhalb des heutigen Meeresspiegels liegt und entsprechend anfällig für warme Meeresströmungen ist, würde den Meeresspiegel weltweit um durchschnittlich 5,10 Meter steigen lassen.

Lange Zeit galt der ostantarktische Eisschild als letzte Bastion, die der Erderwärmung trotzt. Begründet wurde diese Vorstellung damit, dass er Millionen Jahre eisbedeckt geblieben war, auch während erdgeschichtlich wärmeren Phasen als heute. Inzwischen mehren sich die Daten, die zeigen, dass sich die Massenbilanz der Ostantarktis von positiv zu negativ umkehrt. Der Eisschild verliert insgesamt an Masse.

So befindet sich der ostantarktische Denman-Gletscher (130 km lang und 20 km breit) bereits auf dem schnellen Rückzug. Innerhalb von zwei Jahrzehnten hat sich seine Front um fünf Kilometer zurückgezogen. Ähnliche Trends sind auch beim Vanderford-Gletscher und anderen Eisströmen zu beobachten. Das ist auch deswegen brisant, weil die ostantarktischen Gletscher auf einer zum Meer hin abschüssigen Ebene liegen und von vergleichsweise kleinen Schelfeisflächen zurückgehalten werden. Die sitzen wie Pfropfen in der Flasche. Wenn sie sich lösen, fließt der Inhalt aus, aufgrund der abschüssigen Bahn um so schneller.


Blick aus Flugzeug auf riesige Gletscherfläche - Foto: NASA/J. Sonntag, Public domain, via Wikimedia Commons

Denman-Gletscher im Queen-Mary-Land, Ostantarktis. Der Denman-Canyon ist die tiefste von Land ausgehende Schlucht der Erde und liegt 3500 Meter unter dem Meeresspiegel.
Foto: NASA/J. Sonntag, Public domain, via Wikimedia Commons

In der Forschung geht man zwar von Zehntausenden von Jahren aus, bis dass der gesamte ostantarktische Eisschild abgeflossen sein könnte. Allein das würde den Meeresspiegel im globalen Durchschnitt um 52 Meter steigen lassen. Auch wenn hier von menschheitsgeschichtlich gesehen riesigen Zeiträumen die Rede ist, sind die beobachteten Phänomene bereits in ihrem Anfangsstadium für die menschliche Gesellschaft relevant. Denn bei einem Meeresspiegelanstieg um "nur" einen Meter, wie er noch in diesem Jahrhundert für möglich gehalten wird, würden voraussichtlich 230 Millionen Menschen ihre Heimat verlieren. Das betrifft nicht irgendwelche fernen Nachfahren, sondern das werden noch die Menschen erleben, die heute in die Kita gehen. Bei einem Meeresspiegelanstieg von zehn Metern wären sogar über eine Milliarde Menschen unmittelbar betroffen.

Gegenwärtig lösen sich die westantarktischen Gletscher deutlich schneller auf als ihre Geschwister im Osten und haben zwischen 1992 und 2017 rund 3,9 Billionen Tonnen Eis verloren. Das trug 6 mm zum durchschnittlichen Meeresspiegelanstieg bei. Im gleichen Zeitraum (1992 - 2018) verlor der grönländische Eisschild 3,9 Billionen Tonnen, was den Meeresspiegel um 11 mm angehoben hat. Die Ostantarktis dagegen hat im vergangenen Jahrhundert vermutlich sogar einen leichten Massenzuwachs erfahren und damit zur Senkung des Meeresspiegels beigetragen. Denn in der Ostantarktis hat es stark geschneit, seit 2009 vor allem auf dem Dronning-Maud-Land. Das widerspricht nicht den Messungen, wonach eine globale Erwärmung stattfindet, sondern bestätigt diese eher: Warme Luft kann mehr Feuchtigkeit binden, mit entsprechend größeren Schneemengen, die sich aus der Atmosphäre lösen, ist zu rechnen.

Bis Ende dieses Jahrhunderts würde die Ostantarktis lediglich 20 mm zum Meeresspiegelanstieg beitragen. Das ist vergleichsweise wenig, aber die Datenlage gilt als unsicher. Dem wollten der erwähnte Nilsson und sein Team vom JPL abhelfen. Für ihre Berechnungen der Massenbilanz der Antarktis haben sie unter anderem die Radar- und Laserdaten von sieben Satellitenmissionen aus dem Zeitraum 1985 - 2020 ausgewertet. Das Ergebnis: Die Antarktis wies noch bis Ende der Nuller Jahre eine annähernd gleichbleibende Massenbilanz auf. Bis dahin waren die Verluste in Folge der Gletscherschmelze in der Westantarktis durch Schneefalleinträge in der Ostantarktis mehr oder weniger ausgeglichen worden. Doch ab dem Jahr 2010 nahmen die Eisverluste vor allem im Westen des Kontinents kräftig zu. Die Gletschersysteme Thwaites und Pine Island haben sich unter erheblichen Eisverlusten um bis zu mehrere hundert Kilometer zurückgezogen.

Der Thwaites-Gletscher steht womöglich kurz vor einer noch dramatischeren Entwicklung, wie ein Team um den Meeres-Geophysiker Alastair G. C. Graham in "Nature Geoscience" (5. September 2022) schreibt. In Folge von warmen Meeresströmungen hatte sich der Gletscher in den vergangenen zwei Jahrhunderten einmal innerhalb von sechs Monaten - und das ist erdgeschichtlich plötzlich - vom Meeresboden gelöst und sich dann doppelt so schnell zurückgezogen wie zuvor. So etwas könnte erneut geschehen, warnte Graham. Das Eisvolumen des "Weltuntergangsgletschers", wie er in den Medien auch genannt wird, und sein Umfeld haben das Potential, den globalen Meeresspiegel um 0,9 bis 3,0 Meter steigen zu lassen.

Aber nur 20 mm Meeresspiegelanstieg in den nächsten rund 80 Jahren durch die Gletscherschmelze der Ostantarktis - also kein Alarm? Wohl niemand käme auf die Idee, einen Waldbrand erst dann zu löschen, wenn die Flammen bereits Berg und Tal eingenommen haben und himmelhoch emporlodern. Je früher man einen Waldbrand löscht, desto besser. Gleiches gilt für den Gletscherschwund. Die beschleunigte Eisschmelze kann man vermutlich nicht mehr aufhalten. Aber man kann auf die Bremse treten und die Treibhausgasemissionen reduzieren. Man muss nicht warten, bis Prozesse beginnen, die unumkehrbar ablaufen.

Das subglaziale Aurora-Becken vor dem Wilkes-Land wird in einer aktuellen Studie in der Fachzeitschrift "Science" (9. September 2022) zu den sogenannten Kipppunkten bzw. Kippelementen gezählt. Damit werden Prozesse bezeichnet, die ab einem Schwellenwert an Geschwindigkeit zulegen, nicht mehr aufzuhalten sind und weitreichende Folgen für die regionalen oder gar globalen Natursysteme haben. Ein anschauliches Beispiel dafür ist der grönländische Eisschild. Wenn er schmilzt, gerät seine Oberfläche in niedrigere und damit wärmere Luftschichten und wird um so schneller schrumpfen. Selbst wenn der Mensch dann seine Treibhausgasemissionen auf Null zurückfährt, kann der Prozess nicht mehr gestoppt werden.

Nicht erst beim 2-Grad-Ziel des Klimaabkommens von Paris, sondern bereits beim damals beschlossenen Wunschziel, die globale Durchschnittstemperatur möglichst um nicht mehr als 1,5 Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit steigen zu lassen, könnten mehrere Kipppunkte überschritten werden. Dann drohen der grönländische und der westantarktischen Eisschild abzuschmelzen, die tropischen Korallenriffe endgültig zu sterben, die Ozean-Umwälzpumpe in der Labradorsee zu versiegen und der Permafrostboden abrupt aufzutauen.


Große Stücke aus einer Permafrostküste kippen ins Meer - Foto: Benjamin Jones, U.S. Geological Survey, Public domain, via Wikimedia Commons

Drew Point, Alaska, 9. Februar 2017. Ein plötzliches Auftauen von Permafrostgebieten in der Arktis könnte die globale Erwärmung beschleunigen.
Foto: Benjamin Jones, U.S. Geological Survey, Public domain, via Wikimedia Commons

Ein Temperaturanstieg von 1,5 Grad Celsius könnte jedoch schon im Jahr 2030 erreicht werden, vermutet ein Forschungsteam um David Armstrong McKay vom Stockholm Resilience Center und Timothy Lenton von der britischen University of Exeter nach der Auswertung von rund 200 Fachartikeln, die seit 2008 zum Thema Kipppunkte erschienen sind. In der "Science"-Studie werden neun Kippelemente aufgelistet, bei deren Überschreiten mit globalen Folgen zu rechnen ist, weitere sieben Kippelemente sind zumindest von regionaler Bedeutung.

Zur Zeit liegt die globale Erwärmung bei 1,1 - 1,2 Grad. Die Klimaschutzzusagen der Politik laufen auf eine 2 - 3 Grad wärmere Welt hinaus. Dadurch könnte sich die Dynamik weiterer Kipppunkte entfalten, zum Beispiel das Versiegen eines südlich von Grönland verlaufenden Ausläufers des sogenannten Golfstroms, der einen Teil der atlantischen Umwälzzirkulation bildet und in Europa bisher für ein vergleichsweise mildes Klima gesorgt hat.

Noch handelt es sich bei den nationalen Klimaschutzzusagen aus dem Pariser Abkommen um nicht mehr als politische Verheißungen. Die tatsächlichen Trends der gegenwärtigen Treibhausgasemissionen lassen eine 3 - 4 Grad wärmere Welt erwarten. Dann würde womöglich die atlantische Umwälzzirkulation komplett versiegen.

Mehr als andere wissenschaftliche Arbeiten zum Klimawandel hat jene "Science"-Studie zu den Kipppunkten für mediale Aufmerksamkeit gesorgt. Denn in ihr werden die Erkenntnisse, die noch vor vier Jahren im "Sonderbericht 1,5 Grad" des Weltklimarats (IPCC) nach umfangreicher Auswertung der Fachliteratur beschrieben und damals als "Weckruf" gehandelt wurden, übertroffen. Die Erde hat bereits ihren "sicheren" Zustand verlassen, schreibt dazu das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), das an der Studie beteiligt war.

Der Zeitpunkt, ab dem mit einem Überschreiten von Kipppunkten "wahrscheinlich" zu rechnen ist, wurde also nochmals nach vorne verlegt. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (8. September 2022) zitiert Johan Rockström, PIK-Direktor und Ko-Vorsitzender der "Earth Commission" mit den Worten: "Das ist definitiv mehr als eine weitere Warnung vor dem Klimawandel. (...) Es ist die erste präzise und sehr beunruhigende Analyse der Kippelemente, die uns zeigt, dass 1,5 Grad nicht einfach ein Klimaziel ist, sondern ein echtes planetares Limit."

Noch nahezu am Beginn stehen die Forschungen zu Kaskadeneffekten, obgleich in den letzten Jahren erste Studien zu der komplexen Problematik der Wechselwirkungen der Natursysteme veröffentlicht wurden. Wenn die globale Erwärmung zunimmt, könnte ein aktiviertes Kippelement weitere Kippelemente auslösen. Das berichtete die PIK-Wissenschaftlerin Ricarda Winkelmann, die ebenfalls an der "Science"-Studie beteiligt war.

Winkelmann, die wie Rockström in der Earth Commission sitzt und seit ungefähr dem Jahr 2017 zu sich gegenseitig beeinflussenden Kippelementen forscht, erklärte in der PIK-Pressemitteilung: "Tatsächlich können Wechselwirkungen zwischen diesen Elementen die kritischen Temperaturschwellen für manche dieser Elemente senken, ab denen einzelne Kippelemente sich dann langfristig zu destabilisieren beginnen." Demnach spricht einiges dafür, dass ab einer Erderwärmung von 1,5 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit Anzahl und Ausmaß der Naturkatastrophen nicht mehr "nur" linear wachsen, sondern exponentiell. Das alles könnte sich innerhalb der nächsten sieben bis acht Jahre abspielen.

Vor kurzem wurde in der Fachliteratur unter dem Titel "Climate Endgame" (Klima-Endspiel) dazu aufgefordert, potentielle Klimawandelkatastrophen genauer zu erforschen (PNAS, 1. August 2022). Im Unterschied zu der Häufigkeit, mit der in der Fachliteratur von einer Erderwärmung um mehr als 3 Grad Celsius ausgegangen werde, gebe es zu der Frage, was genau dann gesellschaftlich geschieht, nur wenige Untersuchungen, wurde gewarnt. Dann blieben die Folgen wohl nicht mehr proportional zur globalen Erwärmung, sondern es würden Schwellenwerte überschritten. "Solche Veränderungen sind in den geologischen Aufzeichnungen der Erde nachweisbar, und ihre Folgen wirken sich kaskadenartig auf das gekoppelte Klima-Ökologie-Sozialsystem aus. Besonders besorgniserregend ist eine 'Kippkaskade', bei der mehrere Kippelemente so zusammenwirken, dass das Kippen einer Schwelle die Wahrscheinlichkeit des Kippens einer anderen erhöht", heißt es in der Studie. Und selbst wenn der Mensch seine Treibhausgasemissionen verringert, könnten solche Kipppunkte dennoch überschritten werden. Im Laufe der Menschheitsgeschichte hätten schon mehrmals klimatische Veränderungen den Kollaps ganzer Gesellschaften ausgelöst, und das Klima habe auch bei allen fünf Massensterben der Erdgeschichte eine wichtige Rolle gespielt.

Ein in den Medien beliebtes Bild für Kippelemente ist eine Reihe von aufgestellten Dominosteinen, die, einmal angestoßen, nach und nach umfallen. Diese Analogie trifft vielleicht für einige Elemente zu, und sie ist für sich genommen schon dramatisch genug. Aber unterstellt dieses Bild nicht eine Linearität und Abzählbarkeit der Ereignisse? Auch wenn eine solche Kaskade von Dominosteinen nur sehr schwer aufzuhalten sein könnte, wirkt das Bild noch überschaubar. Was aber wäre, wenn das System eskaliert, weil sich die Kippelemente nicht nur anstoßen, sondern gegenseitig verstärken, vergleichbar beispielsweise mit einer chemischen Kettenreaktion, wie sie beim Zünden eines Streichholzes oder Verbrennen von Explosivstoffen auftritt?

Einige Natursysteme sind träge. Bei einem globalen Temperaturanstieg von bis zu 2 Grad wird die Antarktis 1,3 Meter zum Meeresspiegelanstieg beitragen. Bei jedem weiteren Grad verdoppelt sich nahezu der Wert auf 2,4 Meter. Und bei einem globalen Temperaturanstieg zwischen sechs und neun Grad würde der Meeresspiegel um 10 Meter pro Grad Temperaturerhöhung steigen. Aber selbst wenn die Erderwärmung an einer dieser Temperaturschwellen rückgängig gemacht würde, behielte die Antarktis die ursprünglich eingeleitete Entwicklung bei, es sei denn, die globale Durchschnittstemperatur würde erheblich unter den Wert sinken, an dem die Schwelle zuvor überschritten worden war. Beispielsweise würde der westantarktische Eisschild erst dann wieder entstehen, wenn die globale Durchschnittstemperatur ein Grad weniger beträgt als das vorindustrielle Niveau (Nature, 23. September 2020).

Die Bilder vom Klimawandel in Arktis und Antarktis wirken vielleicht nicht so spektakulär wie die von den aktuellen Katastrophengebieten in den tieferen Breiten, aber für das Weltklima sind die Prozesse in den Polregionen von enormer Bedeutung. Die nächsten Jahre werden von den dramatischen Auswirkungen der Erwärmung dieser Weltregionen bestimmt sein, unabweislich und für lange Zeit unumkehrbar.

19. September 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 177 vom 1. Oktober 2022


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