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RESSOURCEN/213: Insektizide - den Teufel mit dem Beelzebub ... (SB)



Vor kurzem hat die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit wissenschaftlich untermauert, daß drei Insektizide aus der Klasse der Neonicotinoide für Honigbienen und andere Bestäuber schädlich sind. Die Insekten büßen ihren Orientierungssinn ein und ihre Fortpflanzungsrate nimmt ab. Es gilt als wahrscheinlich, daß die EU-Kommission das seit 2013 bestehende Teilverbot dieser Mittel verlängern wird. Vielleicht wird es sogar auf weitere Pflanzengruppen (Rüben, Kartoffeln) erweitert. Doch inzwischen durchlaufen drei weitere Insektizide das Zulassungsverfahren, die offenbar nicht weniger gefährlich für Bienen sind. Nachdem die EU vor drei Jahren diesen Mitteln grünes Licht erteilt hat, muß nur noch das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) sein Okay geben.

Am 27. April will die EU-Kommission über ein vollständiges Verbot der drei Neonicotinoide Clothianidin, Imidacloprid und Thiamethoxam im Freiland abstimmen lassen. Das Ergebnis des zuständigen EU-Ausschusses für Pflanzen, Tiere, Lebensmittel und Futtermittel (PAFF) gilt zwar als ungewiß, doch hat Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner bereits angekündigt, daß Deutschland der EFSA-Empfehlung folgen und für ein Verbot stimmen wird. Für Österreich gilt das gleiche.

Was nutzt es jedoch, wenn daraufhin weitere Mittel, die ähnlich wie Neonicotinoide wirken, von der EU-Kommission freigegeben werden, nun das nationale Zulassungsverfahren durchlaufen und möglicherweise bald auf den Markt kommen?

So hat der Wirkstoff Cyantraniliprol des Unternehmens Dow Chemical 2016 die EU-Zulassung erlangt und wurde Anfang 2017 von Irland und dem Vereinigten Königreich freigegeben. Cyantraniliprol schadet nachweislich den Honigbienen. Ähnlich wie die Klasse der Neonicotinoide wirken die Substanzen Flupyradifuron von Bayer und Sulfoxaflor von Dow Chemical direkt auf das Nervensystem von Insekten. Beide Substanzen wurden 2015 in der EU zugelassen. Bislang haben die Mitgliedstaaten noch keine Pestizide mit diesen Wirkstoffen freigegeben. Die EFSA bescheinigt dem Mittel Sulfoxaflor ein hohes Gefährdungspotential für Bienen [1].

In einem offenen Brief vom 6. April 2018 fordert das Umweltinstitut München die Bundesregierung auf, ihrer erklärten Absicht, das Bienensterben zu bekämpfen, Taten folgen zu lassen und keine Genehmigung für Pestizide, insbesondere nicht für Cyantraniliprol, Sulfoxaflor und Flupyradifuron, zu erteilen [2].

Die Verwendung von Insektiziden und der Verlust an Lebensräumen zählen zu den Hauptfaktoren für das gegenwärtig umfassende Insektensterben. So hat der Entomologische Verein Krefeld festgestellt, daß zwischen 1989 und 1996 die Insektenbiomasse in Schutzgebieten von Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Brandenburg um mehr als 75 Prozent abgenommen hat [3].

Vom DDT der 1940er bis zu den Neonicotinoiden der 1990er Jahre - die Industrie erfindet zwar immer wieder neue chemische Mittel für die Landwirtschaft, doch die erweisen sich später in der Anwendung als höchst problematisch. Daran zeigt sich ein offenbar grundsätzlicher Widerspruch des intensiven landwirtschaftlichen Anbaus, der bislang nicht gelöst werden konnte: Man wünscht sich ein Mittel, das ausschließlich die sogenannten Schadinsekten tötet, aber die Nutzinsekten unbetroffen läßt. Und das selbstverständlich auch Menschen und anderen Tieren weder kurz- noch langfristig schadet und zudem keine Resistenzentwicklung bei Zielinsekten erzeugt. Das ist so, als wolle man die eierlegende Wollmilchsau erfinden.

Aufgrund der hohen landwirtschaftlichen Intensität ist Deutschland Agrarexporteur. Aber würde das auch dann noch gelten, wenn Landwirte auf Pestizide verzichteten? Oder wenn sie die Kriterien des biologischen Anbaus befolgten (der allerdings ebenfalls Pestizide einsetzt)? Wenn in der gesamten Bundesrepublik keine chemischen Insektenvernichtungsmittel mehr verwendet werden, muß man dann nicht mit beträchtlichen Ernteausfällen aufgrund eines ungebremsten Schädlings- und Krankheitsbefalls rechnen?

Es gerät allzu leicht in Vergessenheit, daß die industrielle Landwirtschaft mit ihren Hochertragssorten, dem exzessiven Düngereinsatz und den satellitengestützten Präzisionsanbaumethoden die Weiterentwicklung einer Landwirtschaft darstellt, die man heute als "biologisch" bezeichnen würde. Selbstverständlich verfolgt die Agroindustrie Profitinteressen. Sie bringt immer wieder neue Mittel auf den Markt und ist damit Gestalterin des Fortschritts. Dieses "Fortschreiten" führt jedoch nicht in eine wachsende Unabhängigkeit des Menschen von den natürlichen Voraussetzungen, sondern erzeugt Probleme, für deren Lösung dann erneut profitträchtige Maßnahmen ergriffen werden müssen. Oder an denen die Menschheit scheitert.

Der generelle Insektenschwund ist ein sehr hoher Preis für die steigenden Ertragszahlen. Hinter dem zweifelhaften Erfolg, bei dem die Industrie ihr Geschäftsmodell perpetuiert und "Lösungen" anbietet, steckt ein Problem, das sehr viel älter ist und möglicherweise bis an den Beginn des landwirtschaftlichen Anbaus zurückreicht. Bestimmte Gräser zu selektieren, sie später zur Aussaat zu verwenden und aufzuziehen, lockt eben auch andere Interessenten an, und zwar in großer Zahl. Man nennt sie Schadinsekten. Es ist zu vermuten, daß die ersten Menschen, die in der Region des fruchtbaren Halbmonds den Getreideanbau erfanden und entwickelten, auf ihrem jeweiligen Stand der Produktivität ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie die Landwirte heute.

Weltweit hungern mehr als 800 Millionen Menschen, mindestens die gleiche Zahl an Menschen ist mangelernährt. Insekten sind unverzichtbare Bestäuber einer Vielzahl von Pflanzen, ohne die noch viel mehr Menschen hungern müßten. In Anbetracht des dramatischen Insektenschwunds sollte der Abkehr von der agroindustriellen, pestizidgetragenen Intensivlandwirtschaft eine Chance gegeben werden. Aber das Grundsatzproblem der Landwirtschaft hat man dadurch nicht automatisch gelöst. Könnte ein pestizidfreier, biologischer Landbau die Menschheit komplett ernähren?


Fußnoten:

[1] https://efsa.onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.2903/j.efsa.2014.3692

[2] http://www.umweltinstitut.org/fileadmin/Mediapool/Downloads/01_Themen/05_Landwirtschaft/Pestizide/Neue_Bienengifte/20180406_offener_BriefBMU_Cyantraniliprol.pdf

[3] Nähere Informationen zum Insektenschwund im Schattenblick unter:
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0133.html
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0134.html
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0135.html

http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0271.html

17. April 2018


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