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BERICHT/010: Klima, Aerosole - Schadensträger im Fadenkreuz, Teil 7 (SB)


Von Riocard Ó Tiarnaigh

Fallout-Karte USA 1951 - 1970 - Foto: Mit freundlicher Genehmigung von www.260press.com © by Richard L. Miller & Two Sixty Press 2005

Radioaktiver Fallout der USA von 1951 - 1970 in Microcurie pro Quadratmeter
Foto: Mit freundlicher Genehmigung von www.260press.com © by Richard L. Miller & Two Sixty Press 2005

Generation Aufbruch in der kritischen Forschung

Bericht von der Konferenz "Severe Atmospheric Aerosol Events" am 11./12.8.2011 in Hamburg

Teil 7: Warnung vor dem nuklearen Winter - Bestandteil der atomaren Abrüstungskonzepte zum "Global Zero"

"Zum ersten Mal kommen Klima- und Friedensforscher aus aller Welt zusammen, um sich mit starken Aerosol-Ausstößen in die Atmosphäre und den möglichen Folgen für Gesellschaft und Wirtschaft zu befassen", heißt es in den Presseinformationen zu der Hamburger Konferenz "Severe Atmospheric Aerosol Events" (SAAE). Im folgenden Beitrag sollen zwei Redner aus dem vierten und letzten Panel zu Wort kommen, die eher der Friedens- als der Klimaforschung zuzurechnen sind. Ihr gemeinsamer Arbeitsschwerpunkt liegt in der weltweiten Abrüstung der Atomwaffen.

Mit dem Vortrag "Reframing the Global Debate on Nuclear Weaponry: Recognizing Scientific Truths about Nuclear War" (Einen neuen Rahmen für die globale Debatte über Nuklearwaffen schaffen: Wissenschaftliche Erkenntnisse zum Atomkrieg berücksichtigen) vertrat Dr. Steven Starr von der Universität von Missouri den Standpunkt, daß die jüngsten Erkenntnisse der Klimatologen über die weltweiten Folgen selbst eines mit Atomwaffen geführten Regionalkrieges zu wenig Eingang in die internationale Abrüstungsdebatte gefunden haben und man diesen Umstand dringend beheben muß. Laut Starr sind sich weder die Politiker noch die Militärs noch die einfachen Bürger im klaren darüber, daß es nicht nur dann zu einem "nuklearen Winter" mit globalem Temperatursturz, Regenrückgang und schwerwiegenden Ernteausfällen käme, wenn die Supermächte USA und Rußland einander mit Kernwaffen beschössen, sondern wenn bereits atomare Schwellenländer wie Indien und Pakistan mit ihren viel kleineren Arsenalen einen Atomkrieg vom Zaun brächen. Sowohl die schweren Einschläge durch die Kernwaffen als auch die dadurch erzeugten Feuersbrünste in den vermutlich vorwiegend urbanen Treffergebieten würden derart große Aerosolmengen in die Atmosphäre einbringen, daß sich das globale Klima abkühlt, die Pflanzenproduktion abnimmt und riesige Hungersnöte ausbrechen - von den unmittelbaren Zerstörungen durch die Atombombenexplosionen und anschließenden Verstrahlungsfolgen ganz zu schweigen.

Darüber hinaus wies Starr, der in den letzten Jahren bei den Verhandlungen über die Umsetzung und Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrags die Regierungen mehrerer Nicht-Atomwaffenstaaten, darunter Chile, Neuseeland und die Schweiz, berät, auf die permanent über der Menschheit schwebenden Gefahr hin, daß Rußland und die USA allein aufgrund der extrem kurzen Vorwarnzeiten ihrer strategischen Streitkräfte einen Atomkrieg anzetteln könnten. Der Auslöser könnte eine Fehlmeldung des satellitengestützten Frühwarnsystems sein, welches die eine Seite zu der Annahme verleite, die andere habe einen Überraschungsangriff gestartet, weshalb man unbedingt mit der Vergeltung beginnen müsse, bevor die eigenen Kapazitäten ausgeschaltet würden. Starr erläuterte anhand offizieller Planungsdokumente des Pentagons, in welchem Ausmaß sich das US-Militär noch heute auf einen Atomkrieg mit Rußland vorbereitet und ausgeklügelte Systeme und Personal in nicht geringer Anzahl in permanenter Bereitstellung hält, um innerhalb weniger Minuten nach Erhalt eines entsprechenden Befehls aus dem Weißen Haus atomar losschlagen zu können.

Steven Starr beim Vortrag - Foto: © 2011 by Schattenblick

Steven Starr über den Irrsinn der nuklearen Abschreckung
Foto: © 2011 by Schattenblick

Selbst wenn die USA und Rußland die Zahl ihrer einsatzbereiten Atomsprengköpfe von mehreren tausend auf mehrere hundert verringerten, wie vielfach gefordert, wäre die Gefahr eines "nuklearen Winters" noch immer nicht gebannt und ständen die Nuklearstreitkräfte beider Seiten weiterhin im angespannten Zustand der extremen Einsatzbereitschaft, so Starr. Er plädierte dafür, die Tatsache des dauerhaften Alarmzustands der amerikanischen und russischen Atomstreitkräfte stärker denn bisher zu thematisieren, um das für die Menschheit inakzeptable Risiko eines nuklearen Krieges aufgrund von Mißverständnissen ein für allemal auszuschalten. Erst danach sollte man die Beseitigung aller Atomwaffen weltweit in Angriff zu nehmen.

Welche konkreten Schritte sinnvoll wären, um die Zahl der vorhandenen Atomsprengköpfe in Richtung Null zu reduzieren, erklärte in einem weiteren Vortrag Oberst a. D. Valery Yarynich. Der 1937 geborene Professor am Moskauer Institut der Militärwissenschaft und Gastprofessor an der California State University in San Bernardino diente mehr als drei Jahrzehnte lang bei den Nuklearstreitkräften der Sowjetunion. Seine letzten sechs Jahre als Offizier saß er im sowjetischen Generalstab. Yarynich, der in den neunziger Jahren als Berater von Alexei Arbatow, seinerzeit Vorsitzender des Verteidigungsausschusses der russischen Duma, gearbeitet hat, gilt weltweit als einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Kommando-, Kontroll- und Kommunikationssysteme bei Atomstreitkräften und hat zum Thema der nuklearen Abrüstung mehrere Bücher und zahlreiche Artikel veröffentlicht.

Der Vortrag "The Way to Deep Cuts" ("Der Weg zu tiefen Einschnitten"), den Yarynich auf der SAAE-Konferenz in Hamburg hielt, basierte auf einem Artikel, den er zusammen mit Bruce Blair vom World Security Institute, Matthew McKinzie vom Natural Resources Defense Council, General Oberst a. D. Victor Esin, dem früheren Stabschef der russischen Nuklearstreitkräfte, und Generalmajor a. D. Pawel Zolotarew, dem früheren Stabsleiter beim Verteidigungsrat der Russischen Föderation, verfaßt hat und der unter der Überschrift "Smaller and Safer - A New Plan for Nuclear Postures" ("Kleiner und sicherer - ein neuer Weg in der Atomkriegsplanung") in der September/Oktober-2010-Ausgabe der renommierten US-Politzeitschrift Foreign Affairs erschienen ist.

Yarynich war während des Kalten Kriegs mit Spieltheorien und den Fragen der nuklearen Abschreckung in all ihren Varianten befaßt. Damit die Abschreckung auch funktioniert und kein Atomkrieg aufgrund einer fatalen Mißdeutung der Absichten oder des Verhaltens der Gegner ausbricht, tritt der russische Nuklearexperte unbedingt für gegenseitige Transparenz ein. Was ihm das größte Unbehagen bereitet, sind Wissens- oder Informationslücken, die zu Mißverständnissen und damit eventuell zu niemals wiedergutzumachenden Fehlentscheidungen führen könnten.

Oberst a. D. Valery Yarynich - Foto: © 2011 by Schattenblick

Oberst a. D. Valery Yarynich
Foto: © 2011 by Schattenblick
Wie vermutlich die meisten Teilnehmer der Fachtagung in Hamburg unterstützt Yarynich die Kampagne "Global Zero", das heißt, er setzt sich für eine Welt ohne Atomwaffen ein. Seiner Einschätzung nach wäre dafür als erstes erforderlich, daß die USA und Rußland, auf die zusammen über 90 Prozent aller Atomsprengköpfe weltweit entfallen, ihre Arsenale soweit reduzieren, daß sie nur noch über eine Zweitschlagskapazität verfügen. Statt jeweils mehrere Tausend Wasserstoffbomben besäßen die USA und Rußland - ähnlich den anderen drei offiziellen Atommächten China, Frankreich und Großbritannien - dann nur noch 50 bis 100 Stück. Zusammen würden die fünf ständigen Mitgliedsländer des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen beschließen, ihre Atomwaffen nicht mehr sofort startbereit zu halten, sondern in zwei Gruppen einzuteilen - die im ersten Echelon wären nach wenigen Stunden, die im zweiten nach ein oder zwei Tagen abschußfähig.

Yarynich und seine Mitstreiter haben anhand dieses Modells mehr als 100 Kriegsszenarien mit Variationen der Wetterverhältnisse, des Einsatzes von Raketenabwehrsystemen und ähnlichem durchgespielt. Das Ergebnis fiel ernüchternd aus, wenngleich im Sinne der Idee der Abschreckung und ihrer Gewährleistung beruhigend: Obwohl die Anzahl der einsetzbaren Wasserstoffbomben viel niedriger läge als heute - jedenfalls bei den Amerikanern und Russen -, wären die Chancen, daß der "Angreiferstaat" einen Erstschlag durchführen könnte, ohne einen massiven nuklearen Vergeltungsschlag des "Opferstaats" hinnehmen zu müssen, gleich null. Der Zweitschlag wäre faktisch immer gewährleistet. [1] Hinzu komme der ironischste Aspekt der Abschreckung: Selbst wenn es dem "Angreiferstaat" gelänge, sämtliche atomaren Waffenkapazitäten des "Opferstaates" auszuschalten, würde die hierfür erforderliche Anzahl an Kernwaffendetonationen das Weltklima dermaßen aus dem Lot bringen, daß die Durchführung einer solchen Operation einem kollektiven Selbstmord gleichkäme. Man würde formal vielleicht den Krieg gewinnen, dafür jedoch den eigenen Untergang und mit ihm den der ganzen Menschheit besiegeln.

Yarynich plädierte für die allgemeine Übernahme dieses Modells der minimalen Abschreckung. Erst wenn sie internationale Gültigkeit erlangt habe und die gewaltigen Restarsenale an Atomwaffen der USA und Rußland abgebaut seien, könne man die endgültige Beseitigung aller atomar bestückten Waffen in Angriff nehmen. Der Nuklearexperte hält diese zweistufige Vorgehensweise deshalb für praktikabel, weil sie allen Beteiligten die größtmögliche Transparenz über die Absichten und Potentiale der anderen gewährleistet. Ohne verläßliche Angaben und Informationen lasse sich kein gegenseitiges Vertrauen, das für eine vollständige Abrüstung aller Atomwaffen erforderlich wäre, herstellen.

Fußnoten:

[1] Zu einer anderen Schlußfolgerung gelangen die US-Analysten Keir A. Lieber und Daryl G. Press in ihrem Artikel "The Rise of U. S. Nuclear Primacy" (Foreign Affairs, März/April 2006). Für sie haben die Vereinigten Staaten bereits Erstschlagsfähigkeit erlangt. Daran erinnerte Steven Starr im Interview mit dem Schattenblick. Näheres dazu unter UMWELT, REPORT, INTERVIEW:
INTERVIEW/007: Klima, Aerosole - Steven Starr, Nuklearexperte, der Universität von Missouri (SB)

1. September 2011