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BERICHT/049: Down to Earth - Geographie, Chance der Wissenschaft oder Schlachtfeld der Interessen? (SB)


Abschlußbericht zum Weltkongreß der Geographie

IGC 2012 - International Geographical Congress vom 26. bis 30. August 2012 an der Universität Köln

Es ist schon erstaunlich angesichts der doch alles in allem absehbar schwerwiegenden Probleme, die auf die Menschheit zukommen, wie kompliziert und umwegig eine Wissenschaft wie die Geographie sein kann, die den Anspruch erhebt, Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit geben zu können. So wurden im August 2012 auf dem Weltkongreß der Geographie in Köln über 400 Vorträge zu wichtigen sozialen, gesellschaftlichen und naturwissenschaftlichen Fragen gehalten; es hörten mehr als 2800 Gäste aus 90 Ländern zu, tauschten sich aus, diskutierten und, ja, stritten sich schon mal. Doch worüber stritten sie? Mit welcher Zielsetzung und welchem Ergebnis? Kam es zu einem Übertrag der geographischen Erkenntnisse auf die Welt "da draußen"?

Auch wenn mit einiger Berechtigung angemerkt werden kann, daß bei diesem wissenschaftlichen Großereignis kritische Positionen wenig vertreten waren, steht außer Frage, daß der Kongreß die in zahlreiche Teildisziplinen aufgefächerte Geographie, wie sie heute an Schulen unterrichtet, Universitäten gelehrt und am konkreten Forschungsgegenstand angewendet wird, in weiten Zügen repräsentiert hat. Was aber repräsentiert die Geographie ihrerseits? Welchen gesellschaftlichen Interessen dient sie?

Rückseite des Hauptgebäudes - Foto: © 2012 by Schattenblick

Universität Köln - fünf Tage lang Weltzentrum der Geographie
Foto: © 2012 by Schattenblick

Eine auch bei dieser Großveranstaltung häufig zu vernehmende Frage war die, ob ein bestimmtes Thema zur Geographie gehört oder nicht. Prompt wurde solchen Bedenken ein geflügeltes Wort entgegengehalten: Geography is what Geographers do. Zu deutsch: Geographie ist das, was Geographen tun. Bei dieser Aussage handelt es sich um eine Art Freifahrtschein, mit dem zu begründen versucht wird, warum sich die Geographie mit Themen befaßt, die ansonsten in anderen wissenschaftlichen Disziplinen angesiedelt sind. Namen wie Pflanzengeographie, Zoogeographie, Bodengeographie oder auch Religionsgeographie und Wirtschaftsgeographie lassen solche "freundlichen Übernahmeversuche" von anderen Forschungsgebieten erahnen.

Wir möchten an dieser Stelle ergänzen: Geographie ist aber auch das, was Geographen nicht tun. Da reist zum Beispiel eine junge Diplomandin in die indische Stadt Chennai und stellt dort Straßenhändlern Fragen danach, wie es ihnen gelingt, in dieser städtischen Umgebung zu überleben. Kaum vorstellbar, daß auch nur ein einziger Straßenhändler durch diese Forschungstätigkeit von der tiefen Not seiner Überlebensbewältigung befreit wird. Sollte nicht Wissenschaft ursprünglich einmal helfen, die als Leid anzusehende Bedingtheit des Menschen aufzuheben, anstatt sich ihrer zu eigenen Zwecken zu bedienen? Das ist nur ein Beispiel, das hier stellvertretend für eine den menschlichen Sorgen und Nöten gegenüber vermeintlich neutrale, wissenschaftliche Objektivität vorschützende Position steht.

Eine weitere Referentin berichtete über Einwanderer in Madrid und nächtlich auf den heruntergelassenen Rolläden der Geschäfte ihres Viertels erscheinende Grafittis, die Ausdruck einer künstlerischen Besetzung des Raumes durch ihre Urheber sind. Welche Räume auch immer hier angeblich okkupiert werden, solange die gesellschaftliche Ordnung im Kern auf Eigentum beruht, dürfte sich solch ein Anspruch immer daran brechen. Der Laden und die Straße gehören nicht den Künstlern. Jene Grafittis sind sogar inzwischen zum festen Bestandteil des Stadtbilds geworden, machen bestimmte Viertel attraktiv und werten sie dadurch auf. Da könnte man sogar umgekehrt von der Okkupation der Kunst durch die städtische Administration sprechen.

Ein Humangeograph erklärte in einer der acht Keynote Lectures - jenen Schlüsselreden, die regelmäßig am Vormittag in der Aula der Universität zu Köln gehalten wurden und stets ein größeres Publikum angelockt hatten -, daß die Geographie wichtig sei, um Kriege besser begreifen zu können. Hier wäre zu fragen, ob nicht die Gefahr besteht, daß der fortlaufende Versuch, das Zustandekommen von Kriegen begreifen zu wollen, an die Stelle einer Positionierungsbemühung gegen diese Spielart vorherrschender Gewaltinteressen tritt, so dieses Anliegen jemals Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Suche nach Kriegsursachen gewesen ist.

Nicht abzusprechen ist den Geographinnen und Geographen, daß sie ihre Forschungen oftmals mit großem Engagement betreiben. So entspannen sich vor, während und nach den offiziellen Programmpunkten häufig lebhafte Debatten rund um die Vorträge, die jeweils vier Leitthemen (Global Change & Globalisation, Risks & Cons, Society & Environment, Urbanisation & Demographic Change. Zu deutsch: Globaler Wandel & Globalisierung, Risiken & Konflikte, Gesellschaft & Umwelt, Urbanisierung & Demographischer Wandel) zugeordnet waren.

Referent erläutert gestenreich eine Karte - Foto: © 2012 by Schattenblick

Engagierter Vortrag von Prof. Michel Deshaies über Windenergie und Naturparks in Frankreich, Deutschland und Spanien
Foto: © 2012 by Schattenblick

Hervorzuheben sind die gelungene Kongreßorganisation, das freundliche Entgegenkommen der Pressesprecherinnen, die Aufmerksamkeit der knapp zweihundert freiwilligen Helferinnen und Helfer - wegen ihrer blauen T-Shirts "blue cloud" genannt -, die keine Mühe scheuten und den Kongreßteilnehmern weiterhalfen, wo sie konnten.

Daß die Medien über diesen inhaltlich schwergewichtigen internationalen Wissenschaftskongreß, der seit über einem Jahrhundert erstmals wieder in Deutschland stattfand, extrem wenig berichtet haben - trotz der dort behandelten hochaktuellen Themen wie die Folgen des Klimawandels, Schutzmaßnahmen gegen Hochwasser, Verstädterung, Auswirkungen der Globalisierung auf indigene Gemeinschaften, Partizipation, Energieproduktion, hat sicherlich auch damit zu tun, daß die meisten Medien es gar nicht so genau wissen wollen und dem Glauben anhängen, umsatzfördernd sei immer nur das, was sich leicht und schnell, ja, geradezu flüchtig konsumieren läßt.

Die mangelnde Medienaufmerksamkeit hat aber auch mit einer Verstiegenheit der Geographie zu tun. Bei manchem Vortrag blieb die Relevanz der Ausführungen und Erkenntnisse, sieht man von einer gewissen berufsständischen Bedeutung ab, unklar. Vielleicht hat das Organisationsteam mit der Wahl des Kongreßmottos, "Down to Earth", einem ähnlichen Unbehagen über solche Forschungsansätze Rechnung getragen und versucht, den Weltkongreß der Geographie bodenständiger zu machen. Demnach stünde das Motto nicht nur für den Ansatz, die Veranstaltung von Kongreßzentren in eine universitäre Umgebung zurückzuholen - was als gelungen bezeichnet werden kann -, sondern auch dafür, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die nicht abgehoben von der Erde in den luftigen Höhen des Elfenbeinturms abgehandelt werden. Geographie könnte sehr wohl eine Chance für die Wissenschaft und somit auch relevant für die menschliche Gemeinschaft allgemein sein.

Am Ende hinterließ der Kongreß jedoch gemischte Gefühle. Auf der einen Seite herzliche Begegnungen mit Menschen aus aller Welt, Kontakte, an die jederzeit wieder angeknüpft werden kann, Forscherinnen und Forscher, für die die Geographie eher eine Berufung denn ein Beruf ist. Auf der anderen Seite jedoch ein selbstreferentiell bleibender Wissenschaftsbetrieb, in dem beispielsweise über Raum und seine vielen Abwandlungen referiert wurde, wobei die Beteiligten manchmal viel Zeit darauf verwendeten, nur um sich abzugrenzen und die vermeintliche Andersartigkeit ihres Ansatzes zu beschreiben. Mitunter wird in der Geographie viel Wert auf Verhältnisse, Beziehungen und abstrakt bleibende Informationsflüsse gelegt. Dabei kommen dann die Interessen des Menschen, die gegenüber denen der eigenen Artgenossen keineswegs immer freundlich sind, kaum noch vor. Lassen nicht geographische Forschungen zur Entstehung und Struktur von Kriegen, zu Hunger und Verarmung, zum Nord-Süd-Gefälle oder auch zu Gender- und Partizipationsfragen darauf schließen, daß Gewalt ein viele Lebensbereiche des Menschen bestimmendes Merkmal ist? Wenn aber von der Wissenschaft Räume betrachtet werden, wird von dieser Seite der menschlichen Interessen abstrahiert, wird das vorherrschende gesellschaftliche Gewaltverhältnis verschleiert. Eine solche Geographie diente dann als Schlachtfeld derartiger Interessen.

Referentin beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Vortrag von Dr. Basabi Khan Banerjee über Hindunationalismus und Gewalt in Ayodhya
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Geschichte der Geographie weiß davon zu berichten, daß diese Forschungsdisziplin dazu verwendet wurde, das eigene Territorium militärisch zu erweitern, der heimischen Industrie Rohstoffe zuzuführen, Absatzmärkte für Waren zu sichern oder generell die eigene Kultur zu exportieren, um Vorherrschaft über noch nicht unterworfene Räume zu erlangen und sie fortan als Besitztum zu reklamieren. Ein klassisches Beispiel ist die Berliner Konferenz 1884/85, auf der eine Reihe europäischer Staaten, die USA sowie das teils in Europa, teils in Asien liegende Osmanischen Reich teilnahmen. Damals wurde die Kongoakte verabschiedet, welche die Grundlage für die spätere Aufteilung Afrikas bildete. Unter der Grenzziehung quer durch die Stammesgebiete leiden die Bewohner des Kontinents noch heute.

In diesem Sinne hat der ursprüngliche Mittelpunkt der Geographie, das Zeichnen von Karten, einen nicht zu leugnenden auf Eroberung und Kontrolle ausgerichteten Hintergrund. Das Anliegen wurde oftmals mit dem anfänglichen Erforschen der weißen Flecken auf der Landkarte, dem Aufbau von Handelsstationen, der Etablierung von Handelswegen und dem Besiegeln von Verträgen vorgetragen. Jene einstmals weißen Flecken existierten allerdings nur aus der Sicht der Eroberer. Ein prototypisches Beispiel dafür bildet die Eroberung Nordamerikas durch die Europäer: Heute leben die ursprünglichen Einwohner, sofern sie nicht assimiliert wurden, in sogenannten Reservaten. Mit der Wahl dieses Begriffs setzt sich die Verschleierung, die mit dem Begriff "freies Land" zu Beginn der Besiedlung ihren Anfang nahm, fort. Reservate sind keine Schutzgebiete zum Schutz der Indianer, sondern umgekehrt zum Schutz der Eroberer. Eine treffendere Bezeichnung für Reservat wäre somit Freiluftgefängnis. Dem widerspricht nicht, daß diese Gebiete heute "selbstverwaltet" sind.

Hinweisschild zu zahlreichen nummerierten Veranstaltungsräumen im Uni-Hauptgebäude - Foto: © 2012 by Schattenblick

Hilfreiche Orientierung im Raum - für den Geographiekongreß ein Muß
Foto: © 2012 by Schattenblick

Ein aktuelleres Beispiel dafür, welche negativen Folgen es haben kann, nur den Raum und seine vielfältigen Ableitungen wie Territorien im Blick zu haben und nicht die Menschen, läßt sich an der Bezeichnung "marginal land" - ungenutztes Land - ablesen. Als vor einigen Jahren das Finanzkapital, Staatsfonds und andere Investoren Land unter anderem in Afrika pachteten oder erwarben, um darauf Pflanzen für die Produktion von Nahrung oder Biosprit anzubauen, hatte es von Seiten der afrikanischen Partner häufig geheißen, die übertragenen Ländereien seien marginal, also quasi unbewohnt.

Das waren sie natürlich ganz und gar nicht. Faktisch gibt es kein ungenutztes Land. Was es gibt, ist Land, das von Menschen, die keine Stimme in der Regierung haben und über keinen gesellschaftlichen Einfluß verfügen, genutzt wird, beispielsweise um Wanderfeldbau zu betreiben, zum Sammeln von Nüssen, Früchten und Feuerholz, zum Grasen oder Tränken der mit den Nomaden umherziehenden Viehherden. Es ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal der Geographie, mehr über abstrakte Strukturen und Räume zu sprechen als über die gesellschaftlich dominanten Kräfte und Interessen, welche diese Strukturen und Räume geschaffen haben, um sich ihrer um des eigenen Vorteils willen zu bedienen. Inzwischen hat jene Übertragung von Landnutzungsrechten als Landnahme, Landraub und auch "land grabbing" Eingang in die allgemeine Medienberichterstattung gefunden.

Zu guter Letzt sollte nicht unerwähnt bleiben, daß sich ausnahmslos alle, an die das Schattenblick-Team mit der Bitte um ein Interview herangetreten war, bereit erklärten, sich für Fragen zur Verfügung zu stellen. Daraus wurde dann ein bunter Strauß aus über ein Dutzend Interviews und noch mehr Berichten, die gewiß einen Eindruck von der Vielfalt der fünftägigen Veranstaltung vermitteln, aber ebenso gewiß nur unzureichend den gesamten Facettenreichtum der Vorträge und darüber hinausgehenden Programmpunkte wiederzugeben vermögen.


Weitere Berichte und Interviews zum Weltkongreß der Geographie 2012 in Köln finden Sie, jeweils versehen mit dem kategorischen Titel "Down to Earth", unter
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Musikgruppe auf der Bühne der Aula in Aktion - Foto: © 2012 by Schattenblick

Das Collegium Musicum begleitete die Abschlußveranstaltung musikalisch
Foto: © 2012 by Schattenblick

2. Februar 2013