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BERICHT/060: Fukushima - Kondolation der Profite, Teil 1 (SB)


"Energie, Macht und soziale Kämpfe in Japan nach Fukushima"

Vortrag des japanischen Antikapitalisten und Anarchisten Sabu Kohso



Ein bißchen war es so, als wehte der Geist Robert Jungks durch den Versammlungsraum: Sabu Kohso, gebürtiger Japaner, seit Anfang der 1980er Jahre in New York lebend, hielt im Bildungswerk der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin einen Vortrag über "Energie, Macht und soziale Kämpfe in Japan nach Fukushima". [1] Dabei nahm der antikapitalistische und anarchistische Aktivist - "ich bin eine Art internationaler Verschwörer", so seine verschmitzt vorgetragene Selbstdarstellung - deutliche Anlehnungen an Jungks Buch "Der Atomstaat". [2]

Referent beim engagierten Vortrag - Foto: © 2013 by Schattenblick

Sabu Kohso - was er zu sagen hat, braucht er nicht vom Papier abzulesen
Foto: © 2013 by Schattenblick

Japan ein "Atomstaat"? Was einen unbedarften Besucher der Veranstaltung oder jemanden, der bislang allein für die technischen und umweltrelevanten, nicht aber gesellschaftlichen Katastrophenfolgen der seit dem 11. März 2011 entufernden Kernschmelzen im Akw Fukushima Daiichi Interesse gezeigt hat, womöglich verwundert, besitzt durchaus Plausibilität. Der Name "Fukushima" steht nicht nur für mehrere Kernschmelzen und Explosionen in dem nordostjapanischen Atomkraftwerk und ebenfalls nicht allein für den radioaktiven Fallout in weiten Teilen des Landes und die permanente radioaktive Kontamination des Pazifischen Ozeans, sondern auch für die grob fahrlässige Verschleierung der Strahlengefahr durch die japanische Regierung und den Akw-Betreiber Tepco (Tokyo Electric Power Company). Ebenso steht "Fukushima" für Medienzensur, einen starken sozialen Anpassungsdruck sowie offene Repressionen gegen die Antiatombewegung. Und nicht zuletzt steht der Name grundsätzlich für ein Wirtschaftsmodell, in dem zugelassen wird, daß kapitalstarke Konzerne ihre Profite privatisieren und Verluste der Gesellschaft auflasten.

Er sei kein Aktivist der Antiatombewegung, stellte Kohso zu Beginn seiner Ausführungen klar. Er und seine Genossen verträten einen etwas anderen Standpunkt als den der traditionellen Akw-Gegner, da sie sich mit der Frage befaßten, wie die Menschen heute gegen ihre Lage angingen und wie dies zu internen Veränderungen der Protestbewegung führe. Nach Fukushima habe er feststellen müssen, daß alle sozialen Kämpfe, ob seitens der Gewerkschaften, der Umweltbewegung oder antikapitalistischer Gruppen, stets mit der Atomkraft zu tun haben. Deshalb sei auch Fukushima für ihn zu einem zentralen Thema geworden. Mit seinem Besuch in Deutschland und der Veranstaltung in Berlin wolle er von der deutschen Antiatombewegung lernen und Kontakte knüpfen.

Der gut halbstündige Vortrag des Referenten drehte sich um drei Fragen:
1.) Warum bloß haben die Japaner nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 die Nukleartechnologie eingeführt?
2.) Warum hat sich die japanische Bevölkerung nach der Reaktorkatastrophe im Akw Fukushima Daiichi nicht weitreichender gegen die Regierung aufgelehnt?
3.) Warum fällt es einem leichter, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus?


Gemeinsames Interesse der US-Regierung und japanischer Nationalisten - Einführung der Nukleartechnologie trotz Hiroshima und Nagasaki

Ähnlich wie die Bundesrepublik Deutschland befand sich Japan nach dem zweiten Weltkrieg unter dem militärischen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einfluß einer der Siegermächte, der USA. In der japanischen Bevölkerung entstand eine breite Protestbewegung gegen die Atombombe. Zu dem Zeitpunkt gab es auf der ganzen Welt noch keine Atomkraftwerke, in denen für die sogenannte zivile Nutzung Energie produziert worden wäre.

Als die Vereinigten Staaten am 28. Februar 1954 auf der zum Bikini-Atoll zählenden Insel Namu eine Wasserstoffbombe von 15 Megatonnen zündeten, was der Sprengkraft von etwa 1000 Hiroshimabomben entsprach, wurde die südpazifische Inselregion einschließlich mehrerer bewohnter Atolle radioaktiv verstrahlt. Der Fallout legte sich auch auf das japanische Fischerboot Daigo Fukuryu Maru, das zu dem Zeitpunkt auf hoher See Thunfisch fing. Die 23köpfige Besatzung wurde stark verstrahlt, ein Matrose starb an den Folgen der Radioaktivität.

Kohso berichtete, daß dieser Vorfall der Antiatombewegung in Japan einen enormen Aufschwung verlieh und sich anschließend der Zorn seiner Menschen nicht nur gegen Atomwaffen, sondern auch gegen die Vereinigten Staaten richtete. An den Protesten hätten sich viele Frauen beteiligt - ein Hinweis, auf den der Referent an späterer Stelle noch einmal in ähnlicher Form anknüpfen sollte: Auch im Jahr 2012 nahmen viele Frauen an den großen Anti-Akw-Protesten in Japan teil, unter anderem, weil sie in Ungewißheit darüber gelassen werden, ob die Nahrungsmittel, die sie ihren Kindern zu essen geben, verstrahlt sind oder nicht.

Aufnahme der pilzförmigen Explosionswolke der Wasserstoffbombe - Foto: National Nuclear Security Administration / Nevada Site Office

Oberirdischer Kernwaffenversuch BRAVO im Rahmen der Testserie Operation Castle am 28. Februar 1954 auf dem Bikini-Atoll
Foto: National Nuclear Security Administration / Nevada Site Office

Der Referent erinnerte daran, daß die zivile Nutzung der Atomenergie auf die Initiative "Atoms for Peace" (Atome für den Frieden) des US-amerikanischen Präsidenten Dwight D. Eisenhower aus dem Jahr 1953 zurückging. Doch erst nach der Fukushima-Katastrophe sei ihm und seinen Genossen so richtig klar geworden, daß die angeblich friedliche Nutzung der Atomenergie viel mit der sozialen Kontrolle zu tun habe. Atomenergie sei nicht einfach nur eine schlechte Energieform.

Wie aber konnte es geschehen, daß sich ein Land gegen den breiten Willen der Bevölkerung und auch eines Teils ihrer Repräsentanten im Parlament für die Atomenergie geöffnet hat? Um das zu erreichen, genügte Eisenhowers Atoms-for-Peace-Initiative und das Versprechen auf eine saubere, preiswerte Energie für jedermann nicht. Unter anderem spannten die USA den nationalistisch gesinnten Shoriki Matsutaro ein, der nach dem zweiten Weltkrieg kurze Zeit als Kriegsverbrecher in Haft saß. Ähnlich wie die US-Regierung Vertreter des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland nach 1945 für sich arbeiten ließ, hat sie offenbar diesen ehemaligen Leiter der Tokioter Geheimpolizei für ihre Zwecke instrumentalisiert.

Shoriki Matsutaro, Gründer der größten japanischen Tageszeitung Yomiuri Shimbun und der Fernsehgesellschaft Nippon, Baseballfanatiker, hochrangiger Judoka, Agent des US-Geheimdienstes CIA und nicht zuletzt Kommunistenhetzer [3] trug als erster Präsident der von ihm im Januar 1956 gegründeten japanischen Atomenergiekommission maßgeblich dazu bei, daß die Atomenergie den Ruf einer friedlichen Energieform erhielt.

Die USA haben selbst den berühmten Zeichentrickfilmproduzenten Walt Disney für diesen Zweck eingespannt, erinnerte Kohso. [4] Das positive Bild von der Atomkraft sei im Laufe der Jahre erfolgreich mit dem japanischen Wirtschaftswachstum assoziiert worden. Selbst die Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber der Atombombe habe sich nach und nach verändert; ein dystopisches Mittel sei in ein utopisches umgewandelt worden.

Man könnte Kohsos Ausführungen an dieser Stelle so zusammenfassen: Bei der Nutzung der militärischen und der zivilen Nuklearenergie gehen der US-amerikanische Imperialismus und der japanische Nationalismus Hand in Hand.

Ein Ergebnis der gemeinsamen Interessen war der am 19. Januar 1960 in Washington unterzeichnete "Vertrag über gegenseitige Kooperation und Sicherheit zwischen Japan und den Vereinigten Staaten", der im Land der aufgehenden Sonne auch kurz "ampo" (gelegentlich "anpo") genannt wird. Er löste dort politische und zivilgesellschaftliche Unruhen aus. Sah doch der Vertrag vor, daß die USA in Japan Militärrecht besitzen, daß sie dort Atomwaffen lagern dürfen und daß sich die beiden Länder im Falle eines Angriffs militärisch unterstützen. Theoretisch bedeutet es, daß die Amerikaner gegebenenfalls auch atomare Waffen einsetzen würden, um Japan zu verteidigen. Und auch daran wird in Japan Kritik geübt: Die USA haben sich eine offensive nukleare Abschreckungsdoktrin zugelegt, während Japan eine Verfassung hat, in der laut Artikel 9 das Militär ausschließlich zu Verteidigungszwecken eingesetzt werden darf.

Trotz der propagandistischen Erfolge der Akw-Lobby hatten 27 japanische Gemeinden Atomenergie in ihrer Region abgelehnt, setzte Kohso seinen historischen Abriß fort. Mit Beginn der 1970er Jahre kam es im ganzen Land zu einem starken politischen Ringen; die Studentenbewegung, und aus ihr heraus radikalere Strömungen, machten auch vor Japan nicht halt. Die Kernenergie blieb hochgradig umstritten. Heute wird sie in nur 14 Gemeinden produziert, wobei gegenwärtig die 54 Reaktoren des Landes wegen Wartungsarbeiten oder Nachrüstungen keinen Strom erzeugen.

1964 erhielt Tokio, das nach einem gewaltigen Erdbeben von 1923 und schweren Luftangriffen im zweiten Weltkrieg jeweils weitreichend zerstört worden, inzwischen aber zu einer blühenden Metropole ausgewachsen war, den Zuschlag als Austragungsort für die Olympischen Spiele. Dieses Symbol des Wiederaufbaus im Anschluß an die Katastrophe wird heute erneut bemüht. Nach dem Tsunami und dem schweren Schlag gegen die Nukleartechnologie vom März 2011 fiel die Wahl ausgerechnet auf Tokio als Veranstalterin der Olympischen Spiele 2020 - eine Entscheidung, die Kohso fassungslos gemacht hat.

Der japanische Ministerpräsident Shinzo Abe behauptete kürzlich, das Fukushima-Unglück sei unter Kontrolle, und wurde kurz darauf gründlich widerlegt. Die Tanks, in denen radioaktives Wasser gelagert wird, erweisen sich mehr und mehr als undicht, zudem dringen täglich schätzungsweise 300.000 Liter hochradioaktiv kontaminiertes Grundwasser in den Pazifischen Ozean. Dennoch verbreitet die Regierung unverdrossen den Eindruck, die Katastrophe sei im wesentlichen bewältigt. "Doch das ist eine totale Lüge. Die Katastrophe ist nicht abgeschlossen", hält Kohso dagegen und warnt: "Hierdurch wird der gesamte Planet verstrahlt." Tokio sei keine sichere Stadt. Die Strahlung breite sich bekanntlich nicht in konzentrischen Ringen aus, sondern käme, abhängig von Wind und Niederschlägen, auch an weit von der Quelle entfernten Orten als radioaktiver Fallout herunter oder gelange über Oberflächen- und Grundwasser, durch Reise- und Transportverkehr (u.a. von radioaktivem Abfall) an entferntere Stellen. Daß auch das Internationale Olympische Komitee bei der Verharmlosung mitspiele, sei schockierend. Das wäre beinahe so, als würde es erklären, es gehe völlig in Ordnung, daß die Weltbevölkerung einer radioaktiven Strahlung ausgesetzt wird.


Breite Auflehnung gegen die Regierung, aber es gibt nicht die eine revolutionäre Kraft

Von Freunden und Bekannten werde ihm häufiger die Frage gestellt, warum sich die Japaner nach Fukushima nicht deutlicher gegen ihre Regierung stellten, so Kohso. Dazu wolle er nur sagen: Sie haben sich entgegengestellt. Die Auflehnung sehe nur manchmal etwas anders aus als erwartet. Am wichtigsten sei es, wie die Leute ihren Alltag bewältigten. So seien zivile Meßstationen zur Bestimmung von Radioaktivität entstanden, und viele Menschen hätten Kenntnisse über Strahlung und ihre Gesundheitsgefahren erworben. Dabei bezögen sie ihre Informationen eher von unabhängigen Journalisten und Bloggern als von der Mainstreampresse. Eine weitere Form der Auflehnung sieht Kohso darin, daß es Menschen gibt, die anderen helfen, aus dem verstrahlten Nordosten Japans wegzuziehen, damit sie sich woanders ein neues Leben aufbauen können.

Germanium-Halbleiter-Detektor - Foto: amnioticfluid, freigegeben als CC BY-SA 2.0 via Flickr

Aufwendiges Strahlenmeßgerät der zivilgesellschaftlichen Initiative CRMS (Citizen's Radiation Monitoring Station) in Setagaya, 26. November 2012
Foto: amnioticfluid, freigegeben als CC BY-SA 2.0 via Flickr

Die Japaner beginnen, über ihr Leben und die Gesellschaft nachzudenken und das Stereotyp der Familie - kleine Wohnung in einem Vorort, ein Auto, zwei Kinder - zu hinterfragen. Diese Vorstellung ist laut Kohso im Grunde zusammengebrochen, "sowohl in ökologischer als auch ökonomischer Hinsicht". Damit wollte er sagen, daß die Menschen in Japan nicht an eine ökologisch belastungsfreie - ohne Klimawandel und ohne die Gefahr einer radioaktiven Strahlung - und ökonomisch gesicherte Zukunft glauben.

Zu den vielen Formen der Auflehnung gegen Regierung und Atomkraft zählte der Referent auch das Bemühen, die Nukleararbeiter zu organisieren. Letzteres hält er sogar für besonders wichtig. Viele von ihnen verdingen sich als Tagelöhner, was die größte prekarisierte Arbeitergruppe des Landes ist. In Japan ist das Modell der Leiharbeit weit verbreitet, und es gibt bis zu acht Ebenen von Subunternehmen, von denen die Tagelöhner immer weiter vermittelt werden. An diesem Geschäft beteiligt sich auch die Yakuza, die "japanische Mafia".

Zur allgemeinen Akzeptanz der Nuklearindustrie trägt ebenfalls bei, daß die Akws in strukturschwachen Gebieten errichtet wurden und durch die nukleare Infrastruktur Arbeitsplätze für Menschen entstehen, die sich ansonsten wahrscheinlich als Tagelöhner in den Metropolen durchschlagen müßten.

In Japan sei der Zeitpunkt nicht erreicht worden, an dem es zu einer allgemeinen Auflehnung gegen die Regierung gekommen wäre, und es existiere nicht die eine große Gegenbewegung, aus der heraus all die Kernenergieprojekte gestoppt werden könnten, berichtete Kohso und faßte noch einmal seine Antwort zur zweiten Frage zusammen: Die Auflehnung hat mit jedem Aspekt des Lebens, Überlebens und der Kultur zu tun.

Auf die Frage, warum sich die Menschen eher ein Ende der Welt als ein Ende des Kapitalismus vorstellen können, lieferte er zwar keine direkte Antwort, aber er nannte weitere wichtige Aspekte der Kernenergieproduktion im kapitalistischen Japan, wobei er auch leise Kritik an der Antiatombewegung einflocht. Die stelle es so dar, als handele es sich bei Atomenergie lediglich um eine schlechte Energie. Für ihn jedoch sei Kernenergie nicht einfach nur eine Energieform, sondern eine Art zu regieren, verbunden mit der Produktion von Waffen und ebenso mit Plutonium. [5]

Die Atombombe diene den USA als Druckmittel unter anderem gegen erdölexportierende Länder, um diese kontrollieren oder in sie einmarschieren zu können, nach einem Muster, das sich wiederhole. Im gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext sei deshalb Kernenergie auch mit Erdöl verknüpft. Daher glaube er nicht, daß es möglich sei, einfach so aus der Kernenergie auszusteigen.

Sabu Kohso möchte Japan als Nationalstaat abschaffen und stellt sich eine gesellschaftliche Ordnung nach Regionen vor. Für ihn ist Kernenergie eine staatliche Macht, eine Gewalt und wie eine kapitalistische Investition eng mit dem Nationenmodell verbunden. Der Referent schloß seinen Vortrag mit den Worten: "Um sich das Ende des Kapitalismus vorzustellen, muß man sich das Ende der Kernenergie vorstellen."


Fazit

Nur für den flüchtigen Blick wirkt die Bundesrepublik Deutschland, deren Regierung einen schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie bis 2022 angekündigt hat, nicht, zumindest in bestimmten Aspekten, als der von Robert Jungk befürchtete Atomstaat: Beispielsweise wurden das Akw Brokdorf und andere Einrichtungen der nuklearen Infrastruktur gegen die massiven Proteste der Bevölkerung durchgesetzt; das Salzbergwerk Gorleben ist, trotz erheblicher Bedenken unter anderem wegen möglicher Wassereinbrüche, als Endlagerstandort für hochradioaktive Abfälle noch immer nicht vom Tisch; die Ursachenbestimmung für den Leukämie-Cluster in der Elbmarsch hat sich im Rauch eines 1991 "zufällig" bei der Feuerwehr in Brand geratenen Schranks mit den für die Aufklärung vermutlich entscheidenden Akten verflüchtigt; und die signifikante Häufung von Krebs bei Kindern in unmittelbarer Nähe von deutschen Kernkraftwerken hat selbstverständlich rein gar nichts mit deren regelmäßigen Strahlenfreisetzungen zu tun ...

Zwei Polizeihubschrauber und mehrere Gruppen von behelmten Polizisten auf einem Feld - Foto: Leonce49 - Hans Weingartz, freigegeben als CC-BY-3.0 Unported

Polizeieinsatz gegen die Demonstration gegen das Akw Brokdorf, 28. Februar 1981. Vier Jahre zuvor hatte Robert Jungk erstmals den Begriff "Der Atomstaat", ebenfalls bei einer Brokdorf-Demo, verwendet.
Foto: Leonce49 - Hans Weingartz, freigegeben als CC-BY-3.0 Unported

Doch trotz all der genannten und ungenannten Machenschaften der Atomlobby erweckt Deutschland gegenwärtig nicht den Eindruck jenes Atomstaats, vor dem Robert Jungk einst gewarnt hat. Im Unterschied zu Japan, das geradezu wie der Prototyp eines solchen nuklearen Leviathans wirkt. Hochrangige Regierungsmitglieder, die aus ihrem Amt scheiden, landen sicher in den Aufsichtsräten oder Vorständen von Nuklearunternehmen; viele Medien befinden sich im Besitz der Nuklearwirtschaft und verbreiten vorzugsweise geschönte Meldungen über das Fukushima-Desaster; Ärzte gefallen sich in optimistischen Diagnosen; Lehrer finden nichts Schlechtes an der Atomenergie (falls doch, droht ihnen die Entlassung ...); wer aus Angst vor der Strahlung seinen Wohnort wechselt oder Agrarprodukte aus der Präfektur Fukushima ablehnt, wird schon mal als "unpatriotisch" geziehen.

Kohsos Kritik an jenen Strömungen der Antiatombewegung, die sich allein auf den Energieträger richten, nicht aber auf die Produktionsbedingungen, unter denen die Energie der Kernspaltung gewonnen, verarbeitet und verwertet wird, trifft ins Schwarze. Oder, anders gesagt, ins Grüne. Kernenergie, Kapitalismus und die Qualifizierung staatlicher Verfügungsgewalt gehen Hand in Hand. Kohsos Erwartung aber, daß der Kapitalismus seine Grundlage verliert, wenn nur die Kernenergie abgeschafft wird, kann hier nicht unkommentiert kolportiert werden. Das Modell Deutschland zeigt, daß es dem Kapitalismus sehr wohl gelingt, sich ein grünes Mäntelchen umzuhängen und ins 21. Jahrhundert fortzuschreiben.

Wer heute in einer Fabrik für ethisch vermeintlich saubere Solarzellen oder Windräder beschäftigt ist, leistet genauso fremdbestimmte Arbeit wie der Angestellte eines Atomkraftwerks. Selbst ein Atomstaat wie Japan könnte sich der sogenannten regenerativen Energieformen bedienen und darüber genauso die Verwertung menschlicher Arbeit sicherstellen wie er es heute über das von dem Referenten geschilderte, vielschichtige System der "Lohnsklaverei" praktiziert. Was die staatliche Verfügungsgewalt betrifft, so ließe sich eine ökoideologisch bis in die Köpfe (und leeren Mägen) der Menschen durchdrungene Mangelgesellschaft vorstellen, in der der freiwillige Verzicht, wie er heute im Nachhaltigkeits- und Suffizienzdiskurs propagiert wird, in einen sowohl sozialen als auch administrativen Zwang umschlägt.

Sabu Kohso betreibt eine Art Re-Import von Robert Jungks Warnung vor dem Atomstaat. Aktuelle Entwicklungen in Japan bestätigen den Referenten auf ganzer Linie. Am 26. November hat das japanische Parlament ein kontroverses Geheimhaltungsgesetz abgesegnet, das als Maulkorb für jede kritische Berichterstattung über die radioaktive Katastrophe gilt. Tags zuvor haben sich bei einer öffentlichen Anhörung in der Stadt Fukushima alle Beteiligten gegen die Annahme des Gesetzes ausgesprochen, berichtete die Zeitung Mainichi Japan. [6] Es wird befürchtet, daß sämtliche atomkritischen Informationen zum Staatsgeheimnis erklärt werden, so daß im Falle ihrer Verbreitung langjährige Haftstrafen drohen. Auf einer Pressekonferenz, mit der sich eine Gruppe von Wissenschaftlern und Rechtsexperten gegen das Gesetz gewandt hat, verglich Akira Kurihara, emeritierter Professor für politische Soziologie an der Rikkyo-Universität, das Gesetz bereits mit dem Ermächtigungsgesetz im nationalsozialistischen Deutschland. [7] Robert Jungks Atomstaat ist keine Dystopie, sondern Wirklichkeit.

Der Schattenblick setzt seine Berichterstattung zu der Veranstaltung mit einem weiteren Teil, der sich mit den Kommentaren und Fragen im Anschluß an den Vortrag befaßt, sowie mit einem Interview mit Sabu Kohso und der Kommentatorin des Vortrags, Marina Sitrin, fort.


Fußnoten:

[1] "Energie, Macht und soziale Kämpfe in Japan nach Fukushima. Was bedeutet Fukushima 3/11? - Für die Menschen in Japan, die Bevölkerung des Planeten, und für globale Aufstände?"
Eine Veranstaltung des Bildungswerks Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung, 22. November 2013, 19:00 bis 21:30 Uhr

[2] Robert Jungk (11.5.1913 - 14.7.1994): Österreichischer Publizist, Journalist und Zukunftsforscher. 1986 erhielt er den Alternativen Nobelpreis, den Right Livelihood Award. Das nicht nur von der deutschen Anti-Atombewegung weithin rezipierte Buch "Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit" erschien erstmals 1977 und wurde in viele Sprachen übersetzt.

[3] Die Internetseite World Socialist Website (WSWS) veröffentlichte am 18. Juni 2011 in einem Gastbeitrag zu Matsutaro Shoriki:
"'Podam' - das war der Codename für den Unterhausabgeordneten und CIA-Agenten Matsutaro Shoriki, der später Präsident der von ihm gegründeten Atomenergie-Behörde und Minister für Wissenschaft und Technologie werden sollte. Shoriki gilt deshalb heute als Vater der Atomkraft in Japan. Shorikis Karriere wäre ohne seine intensive Beziehung zur CIA und zum Pentagon undenkbar gewesen. Im faschistischen Japan vor und während des Krieges war er als Leiter der politischen Polizei insbesondere dafür verantwortlich, Gewerkschaften, Kommunisten, Sozialisten und Kriegsgegner zu verfolgen und zu vernichten. Später wurde er Mitglied des Herrenhauses (Oberhaus) und Chef der Informationsabteilung des Innenministeriums, die für ideologische Kriegsführung und Propaganda zuständig war."
http://www.wsws.org/de/articles/2011/06/fuku-j18.html

[4] In mehreren Episoden der Micky-Maus-Hefte wurde die Atomenergie sehr positiv dargestellt. Außerdem widmete Walt Disney in der dritten Staffel der Serie "Disneyland" der Atomenergie eine eigene Geschichte: "Unser Freund das Atom" (Im Original: Our Friend the Atom, 23. Januar 1957, 60 Min.)

[5] Ursprünglich wurde die Kernenergie im Rahmen des US-amerikanischen Manhattan-Projekts entwickelt, um die Atombombe zu bauen. Bei der Bombe, die von den USA am 9. August 1945 über Nagasaki gezündet wurde, handelte es sich um eine Plutoniumbombe. Japan gehört zu den Ländern, die sogenannte Schnelle Brüter zur Herstellung von Kernbrennstoff gebaut haben - als Ausgangsmaterial dient unter anderem Plutonium. Deswegen spricht man in diesem Zusammenhang auch von einer Plutoniumwirtschaft. Das in Brennelementen verwendete Plutonium-239 hat eine Halbwertszeit von 24.110 Jahren.

[6] http://mainichi.jp/english/english/perspectives/news/20131127p2a00m0na004000c.html

[7] http://mainichi.jp/english/english/newsselect/news/20131130p2g00m0dm022000c.html


1. Dezember 2013