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BERICHT/106: Am Beispiel Indien - weltweites Bündnis gegen Kernkraftlogistik ... (SB)


Nuclear Lies - Atomlügen

Filmvorführung am 23. September 2015 im Hamburger Centro Sociale

Teil 2: Der Hamburger Hafen - Drehscheibe für Nukleartransporte auch nach Indien


Die Bundesregierung hat den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen, aber dieser bleibt unvollständig, solange Deutschland noch fest in die globale Kernkraftlogistik eingebettet ist. So werden in Lingen Brennelemente für den Export in die ganze Welt vorbereitet, in Gronau steht eine Urananreicherungsanlage und außerdem wird über Deutschland weiterhin ein Teil des internationalen Transports von Nuklearmaterial abgewickelt. Eine Drehscheibe für Nukleartransporte bildet der Hamburger Hafen. Über ihn werde auch Indien beliefert, berichtete der indische Dokumentarfilmer Praved Krishnapilla. Er hat den Dokumentarfilm "Nuclear Lies" (72 Min., 2014/15) produziert und am 23. September im Hamburger Centro Sociale präsentiert. Dazu eingeladen hatte ihn das Ehepaar Antje Kröger-Voss und Dieter Kröger, die ihrerseits einen Anti-Akw-Film gedreht haben, dessen Titel, "Unser gemeinsamer Widerstand", für sich selbst spricht.


Im Anschluß an die Filmvorführung im Gespräch mit dem Publikum - Foto: © 2015 by Schattenblick

Praved Krishnapilla
Foto: © 2015 by Schattenblick

Krishnapillas Film handelt, wie der Name schon sagt, von "nuklearen Lügen". Der Zuschauer gewinnt den Eindruck, daß damit mehrere Erzählebenen gemeint sind: Menschen werden durch radioaktive Strahlung als Folge beispielsweise ihrer Arbeit im Bhabha Atomforschungszentrum BARC geschädigt oder weil sie in der Nähe von Nukleareinrichtungen wie der Uranmine Jadugorar (auch Jadugoda genannt) im Bundesstaat Jharkhand oder Akw-Standorten wie Jaitapur in Maharashtra, Kalpakkam und Kudankulam im südlichen Bundesstaat Tamil Nadu leben. Der offizielle Standpunkt lautet, daß die Atomenergie keine Gesundheitsgefahr darstellt - die schweren Schädigungen der Menschen straft dieser Behauptung zweifellos Lügen.

Auf einer zweiten Erzählebene setzt sich das Lügengebäude fort: Indien braucht keine Atomenergie. Derzeit deckt Atomstrom nur 1,9 Prozent des Energiebedarfs des Landes ab - die Erneuerbaren haben bereits einen Anteil von 12,4 Prozent (inklusive Wasserkraftwerke unter 25 MW Leistung). [1]

So lautet denn eine zentrale Aussage Krishnapillas, daß der eigentliche Zweck der zivilen Atomenergie in der Ablenkung vom militärischen Nutzen der Kernspaltung liegt. Indien baue sein Arsenal an Atomwaffen als Gegengewicht zu Pakistan, das ebenfalls über Atomwaffen verfügt, laufend weiter aus, berichtete er im Anschluß an die Filmvorführung bei einer angeregten Gesprächsrunde mit dem Publikum.

Der Widerstand in Indien gegen die Atomkraft ist zwar entwickelt, wird aber vorwiegend auf lokaler Ebene ausgetragen. Auch davon handelt der Film. Eine internationale Vernetzung könnte den örtlichen Protesten mehr Schlagkraft verleihen. An der Stelle kommt der Hamburger Hafen ins Spiel. Als Drehscheibe für die globale Kernkraftlogistik stellt er das Bindeglied zwischen dem unvollständigen Atomausstieg Deutschlands und der indischen Atomwirtschaft dar, man könnte in Anlehnung an den Film von einer weiteren Ebene der "Atomlüge" sprechen - diesmal auf Seiten der Bundesregierung.

Damit nicht so getan wird, als sei das Thema "Atomwirtschaft" mit dem Ausstiegsbeschluß der Bundesrepublik erledigt, und um auf die Funktion des Hamburger Hafens für die weltweiten Atomtransporte nicht nur aufmerksam zu machen, sondern dieser Praxis einen Riegel vorzuschieben, haben sich Hamburger Anti-Atomgruppen zu einem Bündnis zusammengeschlossen und am 12. September die Kampagne "Atomtransporte durch Hamburg stoppen" losgetreten. [2]

Nach Angaben von "SAND - Systemoppositionelle Atomkraft Nein Danke Gruppe" wurden im vergangenen Jahr 166 Atomtransporte über den Hamburger Hafen abgewickelt. Befördert wurden unter anderem neue Brennelemente, angereichertes Urandioxid, angereichertes und nicht angereichertes Uranhexafluorid, Uranerzkonzentrat (Yellow Cake), Radionuklide (u.a. für medizinische Zwecke) sowie entleerte Behältnisse für radioaktive Stoffe. [3]

Bereits der in diesem Jahr unterzeichnete Koalitionsvertrag der rot-grünen Regierung der Hansestadt zeigt, daß die Politik keine entschiedenen Maßnahmen gegen die Atomtransporte ergreifen will, heißt es doch in der Vereinbarung: "Der Transport und der Umschlag von radioaktiven Stoffen aus Zwecken oder für Zwecke als Kernbrennstoff ist bundesrechtlich abschließend geregelt und kann deshalb von Senat oder Bürgerschaft nicht einseitig beschränkt werden. Die neue Regierung wird allerdings bei relevanten Unternehmen darauf hinwirken, im Wege der Selbstbeschränkung auf den Umschlag und seeseitigen Transport derartiger Stoffe im und durch den Hamburger Hafen zu verzichten." [4]

Die Bemühungen reichen allerdings nicht einmal so weit, die Reederei Hapag Lloyd, an der die Hansestadt zu 23 Prozent beteiligt ist, davon zu überzeugen, freiwillig auf Atomtransporte und damit auf Geschäftseinnahmen zu verzichten. Noch im November und damit schneller als erwartet will Hapag Lloyd an die Frankfurter Börse gehen [5] - für einen solchen Fischzug wäre die Weigerung, Nuklearmaterial zu transportieren, vermutlich äußerst kontraproduktiv. Wenn es für gesunde Wirtschaftsdaten eines Unternehmens sorgt, werden gesundheitliche Schädigungen der Bevölkerung schon mal in Kauf genommen.


Am Containerterminal Altenwerder werden vier Containerschiffe gleichzeitig ent- oder beladen - Foto: © 2015 by Schattenblick

Umtriebige Drehscheibe der globalen Kernkraftlogistik - Containerterminal Altenwerder, September 2010
Foto: © 2015 by Schattenblick

Wie potentiell gefährlich diese Transporte sein können, zeigte der Brand am 1. Mai 2013 auf dem Container- und Autofrachter "Atlantic Cartier" im Hamburger Hafen. Das Feuer war aus unbekannter Ursache ausgebrochen und konnte viele Stunden lang nicht gelöscht werden. Mehr als 200 Feuerwehrleute wurden aus ganz Hamburg zusammengezogen. Die "Atlantic Cartier" hatte unter anderem 180 t Ethanol und Sprengstoffe bzw. Raketenantriebsstoffe, 4 t Munition, 11 t Brennelemente für Kernkraftwerke sowie 8,9 t Behältnisse mit Resten von Uranhexafluorid (UF6) an Bord. UF6 reagiert chemisch mit Wasser zu der gefährlichen Flußsäure, die die Atemwege verätzt, sollte sie freigesetzt werden.

In Hafennähe, keine tausend Meter vom Brandherd entfernt, hatten sich an jenem 1. Mai auf mehreren Veranstaltungen des Evangelischen Kirchentags um die 100.000 Menschen versammelt, die nicht ahnten, in welcher Gefahr sie schwebten, wäre der Cocktail aus Munition, Treibstoffen und radioaktiven Substanzen explodiert und hätte sie in eine chemisch ätzende und radioaktiv kontaminierte Wolke gehüllt.

Erst auf Nachfrage und Drängen von Umweltorganisationen räumten die Hamburger Behörden zwei Wochen später ein, daß der Frachter Nuklearmaterial an Bord hatte und die Feuerwehr völlig unzureichend ausgestattet gewesen war, um den Brand zu löschen. Fast 16 Stunden hatte ihr Einsatz in Anspruch genommen. So brandgefährlich dieser Vorfall auch war, er war nicht der einzige unter Beteiligung von Strahlenmaterial in den letzten Jahren. Bei Atomtransporten an fast jedem zweiten Tag allein im Hamburger Hafen und vielen weiteren Transporten kreuz und quer durch Deutschland ist nichts anderes zu erwarten, als daß sich Unfälle ereignen.

Das Unfallrisiko ist aber nicht das einzige Problem. Eine Fixierung darauf lenkt sogar von den schleichenden Folgen der Atomtransporte ab. Das Argument, daß Unfälle unter Beteiligung von Nuklearmaterial die Ausnahme sind und gerade die hohe Zahl an Transporten, ohne daß etwas geschehen ist, für die Beherrschbarkeit der Technologie und die Zuverlässigkeit der Schutzmaßnahmen sprechen, kann insofern nicht greifen, als daß auch die geringste Strahlenbelastung mit einer Erhöhung des Krebsrisikos verbunden ist. Die gesundheitlichen Schäden, die beispielsweise ein Transportarbeiter im Hamburger Hafen als Folge des Umgangs mit Strahlenmaterial erleidet, sind nicht identifizierbar, weil sie nicht auf eine bestimmte Ursache zurückzuführen sind. Daraus aber den Schluß zu ziehen, daß etwas, das nicht identifizierbar ist, auch nicht existiert, wäre ein Fehlschluß. Krankheiten wie Krebs lassen sich in den seltensten Fällen monokausal herleiten.

Atomtransporte über den Hamburger Hafen zu stoppen verhindert selbstverständlich nicht den Bau von Atomkraftwerken in Indien. Es könnte aber, abgesehen vom unmittelbaren Nutzen des Abwendens der Strahlengefahr für Mensch und Umwelt, dazu beitragen, daß der Versuch der indischen Regierung, den Widerstand gegen die Kernenergie als unbedeutenden, vollkommen isolierten Standpunkt weniger Dorfbewohnerinnen und -bewohner darzustellen, als Täuschungsmanöver entlarvt wird. Wenn hierzulande wie auch in Indien noch deutlicher gemacht werden könnte, daß die Auseinandersetzung stets die gleiche ist, ob Menschen vor deutschen Nukleareinrichtungen oder indische Dorfbewohner gegen den Bau eines Atomkraftwerks in ihrer Nachbarschaft protestieren, würde das zur gegenseitigen Unterstützung des jeweiligen Anliegens beitragen. Diesen Eindruck vermitteln der in Wien lebende Praved Krishnapilla und diejenigen, die an dem per Crowdfunding finanzierten Film beteiligt sind und meist aus der österreichischen Anti-Akw-Bewegung stammen, mit "Nuclear Lies".

Initiativen wie SAND bringen schon von ihrem Namen her zum Ausdruck, daß die Auseinandersetzung nicht beim Widerstand gegen Atomenergie enden muß. Eine Welt ohne Atomenergie wäre auf jeden Fall einer Welt mit Atomenergie vorzuziehen, dennoch würde ein Austausch der Energiesysteme nicht den systembedingten Widerspruch aufheben, der am Beispiel der Proteste gegen Atomkraftwerke in Indien deutlich wird, nämlich daß Menschen Verfügungsgewalt über andere Menschen ausüben und ihre vorherrschenden Interessen bis hin zur physischen Schädigung der Betroffenen durchsetzen können.


Unterhalb der Film-Projektionsfläche im Centro Sociale aufgehängtes Banner mit symbolischer Darstellung eines Schiffstransports von Nuklearmaterial von Deutschland nach Indien - Foto: © 2015 by Schattenblick

Atomtransporte von Deutschland zu den indischen Akw-Standorten Jaitapur und Kudankulam
Foto: © 2015 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/suche,t=indiens-regierung-will-den-ausbau-des-stromsektors-vorantreiben,did=1167788.html

[2] http://www.robinwood.de/wordpress/blog/aktion/2015/09/protest-vor-hamburger-umweltbehoerde-urantransporte-stoppen/

[3] https://sand.blackblogs.org/2015/08/27/auswertungen-der-atomtransporte-ueber-den-hafen-von-hamburg-im-jahr-2014/

[4] http://www.hamburg.de/contentblob/4479010/data/download-koalitionsvertrag-2015.pdf

[5] http://www.zeit.de/2015/40/hapag-lloyd-reederei-boerse

2. Oktober 2015


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