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INTERVIEW/020: Stark in der Not - Gespräch mit Edgar Göll, Teil 2 (SB)


"Wir werden sehen, ob der Westen den zerstörerischen Lebensstil auch nur leise verändern wird - genau da wäre Kuba das Vorbild."

Interview mit Dr. Edgar Göll vom Netzwerk Cuba e.V. am 29. Mai 2012 in Berlin - 2. Teil



In Fragen der Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik von Kuba lernen? Der bloße Gedanke muß den langjährigen und unbelehrbaren Gegnern des kleinen, karibischen Inselstaates, der von der Idee des Sozialismus nicht lassen will, schon ein Greuel sein. Dabei wären die kubanischen Expertinnen und Experten, wie sich auch am 29. Mai 2012 im Saal der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) in Berlin auf einer vom Netzwerk Cuba e.V. organisierten Veranstaltung zum Thema "Umwelt und Nachhaltigkeit in Cuba - Erfahrungen, Perspektiven und Rio+20" [1] gezeigt hatte, interessante Gesprächspartner.

Mit Dr. Edgar Göll vom Netzwerk Cuba e.V., der den Abend moderiert hatte, konnte der Schattenblick im Anschluß ein längeres Gespräch führen, in dessen zweitem Teil es um die Miami-5, die Kuba-Solidarität hier in Deutschland, die kubanischen Missionen im Ausland sowie die heutigen Probleme des Inselstaates ging. [2]

Edgar Göll erzählt aus der Anfangszeit der Kuba-Solidarität - Foto: © 2012 by Schattenblick

Solidarität mit Kuba - keineswegs ein Relikt vergangenerklärter Zeiten studentischen Protestes
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Im deutschen Bundestag hat es vor kurzem einen Antrag der Linkspartei gegeben zu den fünf Kubanern, die als "Cuban Five" bekannt geworden sind. Sie waren 1998 wegen angeblicher Spionage in den USA zu Freiheitsstrafen zwischen elf Jahren und Lebenslänglich verurteilt worden, weil sie versucht hatten, auf dem Boden der USA Terroranschläge gegen Kuba zu verhindern, indem sie exilkubanische Gruppen in Florida unterwandert und deren Anschlagsplanungen nach Kuba gemeldet hatten. Wissen Sie, was dieser Antrag beinhaltete und was dabei herausgekommen ist?

Edgar Göll: Die Linksfraktion im deutschen Bundestag hat eine Resolution eingebracht, die keinen bindenden Charakter hat und eher symbolischer Art ist, aber immerhin. Sie hat zum Inhalt gehabt, daß der Deutsche Bundestag von Präsident Obama gewissermaßen die Freilassung der "Cuban Five" fordert und hat dies entsprechend begründet. Das wurde dann im Auswärtigen Ausschuß, ich glaube sogar im Unterausschuß für Menschenrechte diskutiert. In der ersten Abstimmung war es so, daß eigentlich nur Die Linke für diese Resolution gestimmt hat. Alle anderen Fraktionen haben sich entweder enthalten oder waren dagegen wie insbesondere CDU/CSU und FDP. Es gab noch eine Diskussion und dann natürlich die Abstimmung im Plenum nach den entsprechenden Diskussionen in den Ausschüssen. Dabei zeigte sich, daß es gewissermaßen doch eine kleinere Veränderung gegeben hatte. Die Linksfraktion war natürlich dafür, aber wohl auch einige Abgeordnete aus der SPD-Fraktion und von den Grünen, glaube ich, haben dafür gestimmt, CDU/CSU und FDP waren dagegen.

SB: War das Verhältnis etwa pari pari?

EG: Nein, die Mehrheit war ganz klar dagegen. Bei der SPD waren das nur ein paar wenige Abgeordnete, wenn ich das richtig sehe. [3] Aber klar ist, daß sich die wenigsten Politiker hier in Deutschland auf diese Thematik wirklich einlassen. Man stelle sich nur einmal vor, das, was den "Cuban Five" widerfahren ist, wäre irgendwelchen Menschenrechtlern oder Freiheitskämpfern in der Ukraine, in Ländern wie Syrien oder Libyen oder wo auch immer widerfahren - dann wäre hier, glaube ich, das Framing dieser Thematik ein völlig anderes gewesen. Aber weil es nur Kuba betrifft und dann sogar noch die USA an diesem Unrecht schuld sein sollen, ist das kein Thema. Es gab einmal einen Artikel in der "Süddeutschen Zeitung", in der "Jungen Welt" steht natürlich häufiger etwas darüber drin, aber das ist es dann auch schon. Dabei ist das eigentlich eine "Human-Touch-Story", wenn fünf Leute versuchen, ihr Vaterland vor Angriffen und Terroraktionen aus den USA zu bewahren, präventiv und ohne ein Verbrechen zu begehen, und dann dafür verurteilt werden. Das ist wirklich extrem, gerade auch in einem Land, das sich angeblich den Krieg oder den Kampf gegen den Terror auf die Fahnen geschrieben hat. Aber die meinen damit natürlich etwas anderes als den realen Terrorismus.

SB: Ich möchte gern noch auf die Kuba-Solidarität hier in Deutschland zu sprechen kommen. Sie sind ja Vertreter vom "Netzwerk Cuba", einem Dachverband von über 40 Organisationen der Kuba-Solidaritätsarbeit, und haben das über lange Zeit verfolgt. Die Wurzeln dieser politischen Arbeit liegen sicherlich in der deutschen Linken und in der Studentenbewegung. Können Sie da ein Resümee ziehen oder einen kurzen Abriß dieser gesamten Entwicklung geben?

EG: Ja. Die ersten beiden Kuba-Solidaritätsgruppen hier in Deutschland wurden 1974 gegründet. Ihr Hintergrund waren natürlich die 68er und überhaupt die fortschrittlichen Bewegungen hier. Hier im Westen war dann der Eindruck entstanden, daß Kuba unter bestimmten, auch wirtschaftlichen Problemen im Zusammenhang mit den USA leidet beziehungsweise bedroht wird, und daraufhin kam es zu diesen Gründungen. Im Laufe der Zeit haben sich dann vielleicht sogar, wie ich schätzen würde, hunderte Gruppen gebildet. Das fing damit an, daß man auch materielle Hilfe geleistet, also Spenden und Hilfsgüter rübergebracht hat. Es wurden Reiseprogramme aufgezogen und Besuchsreisen organisiert, um das Land, seine Kultur und Politik erst einmal kennenzulernen und die Sprache zu erlernen. Dann wurden die Diskussionen zum Teil auch etwas politischer, was aber bei den meisten Gruppen meines Erachtens keine große Rolle spielte.

Anfang der 90er Jahre bekamen die Kuba-Solidaritätsgruppen dann noch einmal einen enormen Schub wegen der besonderen Problemlage Kubas infolge des Wegfalls bzw. Zusammenbruchs der osteuropäischen Staatengruppe. Da war Kuba wirklich in ganz großer Not. Daraufhin haben sich hier neue Gruppen gegründet oder alte Gruppen noch einmal ganz besonders engagiert. Dabei ging es erst einmal für lange Zeit, bis heute eigentlich, um materielle Hilfestellungen im medizinischen und technischen Bereich. Ganz normale Versorgungsleistungen wurden da organisiert wie auch weiterhin viele Reisen. In den letzten Jahren haben wir jetzt immer mehr wahrgenommen, daß die Gruppen sich auch politischeren Fragen stellen, etwa im Kontext mit den ALBA-Staaten wie auch gegenüber den USA. Da hat man sich beispielsweise von Obama gegenüber Kuba ein bißchen mehr Öffnung erwartet, die aber nicht eingetreten ist.

Ich habe jetzt den Eindruck, daß stärker politisch gearbeitet und agiert wird, um Kuba und seine Entwicklung weiter zu unterstützen. Mittlerweile hat das "Netzwerk Cuba" selbst über 40 Mitgliedsgruppen und -organisationen. Zwei dieser Organisationen sind in sich auch schon fast wieder Netzwerkbildungen, so zum Beispiel "Cuba sí" [4] oder auch die "Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba" [5]. Jede dieser Organisationen besteht aus etwa 20, 30 oder 40 regionalen oder lokalen Gruppen. Daran kann man erkennen, daß die Solidaritätsbewegung mit Kuba hier in Deutschland relativ weit verbreitet ist. Vielleicht ist sie nicht besonders schlagkräftig, aber es gibt viele Städte, in denen etwas zu Kuba gemacht wird, und das ist natürlich enorm. Das ist dann aber auch, wie soll ich sagen, ein Gegengeschenk an Kuba, weil Kuba einfach so solidarisch zu vielen anderen Ländern ist, obwohl es selber nicht viel hat. Aber die Kubanerinnen und Kubaner teilen das wenige noch mit anderen, wie in dem Vortrag heute auch kurz angesprochen wurde. [1]

Bei meinem letzten Besuch in Kuba im Februar letzten Jahres hatten wir die schöne Gelegenheit, die ELAM zu besuchen, das ist die Medizinische Hochschule für lateinamerikanische Studenten. Ihre Gründung wurde vor 14 Jahren von Fidel Castro nach einem riesigen Erdbeben und einer Naturkatastrophe mit sehr vielen Opfern angeregt. Ich glaube, das war in Nicaragua. Kuba hatte damals sofort Ärzteteams nach Nicaragua geschickt, um den Menschen zu helfen. Da wurde dann aber schnell klar: Was machen wir ein paar Wochen später? Wir können doch nicht einfach wieder weggehen und die Nicaraguaner sich selbst überlassen? Dann kam in Gesprächen mit den Ärzten, die vor Ort waren, bei Fidel Castro die Idee auf, dazu ein spezielles Programm zu machen. Das bedeutete, daß Kuba sagte: Wir sorgen dafür, daß die armen Nachbarländer medizinisch ausgebildet werden, und das wurde dann in dieser ELAM gemacht. Diese Hochschule hat seither in den letzten 12 Jahren über 10.000 Menschen, junge Menschen aus lateinamerikanischen Ländern, aber auch einige wenige aus den USA, umsonst als Mediziner ausgebildet. Über 10.000!

SB: Da entstehen ja auch Kosten - wenn man sich denn einmal darauf einlassen wollte, so zu denken und zu rechnen.

EG: Ja, absolut. Aber wissen Sie, das ist auch der Punkt, der immer wieder deutlich wird, wenn man Lateinamerikaner reden hört wie eben gerade auch den Botschafter aus Ecuador [6]: Die Dankbarkeit gegenüber Kuba ist in vielen lateinamerikanischen Ländern, aber natürlich nicht in allen Schichten, kolossal. Das Ansehen Kubas ist einfach immens. Ein kleines Land, das so nah an den USA existiert und sich trotzdem so entwickelt hat, das ist fast ein Wunder. Und das läßt sich wirklich wissenschaftlich fundiert in Gesprächen mit Expertinnen und Experten belegen oder von neutralen Quellen bestätigen.

SB: Nicht zu vergessen die internationale Mission kubanischer Augenärzte, die hierzulande so gut wie nicht bekannt ist.

EG: Ja, die "Operación Milagros" [7]. Sie haben vorhin gefragt, warum die Medien hierzulande nicht darüber berichten. Das fragen wir uns auch. Deshalb haben wir als Freundschaftsgesellschaft zu Kuba eine kleine blaue Broschüre gemacht, um Leute, die ein bißchen interessiert sind, mit minimalen Informationen zu versorgen und zu sagen: Seht euch an, was in dem Land alles so läuft. Ohne zu sagen: Das ist jetzt alles toll. Aber gerade solche Beispiele sind doch kolossal.

SB: Da Sie gerade sagen, daß nicht alles toll ist: Wo würden Sie sagen, liegen im heutigen Kuba die wirklichen Probleme?

EG: Das ist relativ eindeutig. Das Hauptproblem Kubas ist, daß sehr ineffizient gearbeitet wird. Das heißt, daß sich die Arbeitsorganisation, das Management und so weiter wirklich auf einem sehr niedrigen Niveau befinden. Da muß eine ganz deutliche Entwicklung stattfinden und ein qualitativer Sprung erreicht werden.

SB: Meinen Sie jetzt die staatliche Verwaltung?

EG: Das ist überall so. Ich kenne jetzt nicht alle Bereiche wirklich gut. Aus unserer Projektarbeit kenne ich den landwirtschaftlichen und auch den staatlichen Bereich. Wenn man da in manchen Büros sieht, wie da gearbeitet oder eben nicht soviel gearbeitet wird... Da ist es schon so, daß ein Teil der Beschäftigten nicht wirklich beschäftigt ist, was auch sein Gutes hat, das will ich nicht in Abrede stellen.

SB: Das kann ja auch die westliche Brille sein.

EG: Absolut richtig. Aber diese Kritik oder vielmehr Selbstkritik kommt nicht von uns als Solidaritätsgruppen. Was geht uns das an? Das müssen die Menschen dort selbst wissen. Nein, diese Kritik kommt von ihnen selber, von den Ökonomen, von Raúl Castro wie auch von Fidel. Der hat im November 2005 an der Alma Mater der Universität Havanna eine tolle Rede gehalten, in der er auch diese Probleme angesprochen und gesagt hat: Wenn wir dieses Niveau an sozialer und ökologischer Entwicklung, in Bildung und Gesundheit usw., halten wollen, müssen wir effektiver werden. Dann muß die Korruption wirksamer bekämpft werden. Sämtliche Arbeitsabläufe müssen durchdachter und ökonomischer organisiert werden, "ökonomisch" jetzt nicht wie hier im Sinne von Ausbeutung.

Da muß überlegt werden: Ich habe hier zum Beispiel 100 Pesos, was mache ich mit denen? Wo setze ich sie jetzt ein und wer bezahlt dafür? Es ist natürlich auch unabweislich - und das habe ich auch von Wirtschaftswissenschaftlern aus Kuba gehört, die nachweisen konnten, was auch in vielen anderen Ländern bekannt ist -, daß bei bestimmten Formen des Privatbesitzes, zum Beispiel bei Klein- und Familienbauern, die Effektivität pro Fläche Land das Doppelte oder sogar Dreifache beträgt. Natürlich ist in Staatsbetrieben oder großen, anonymen Genossenschaften das Verantwortungsgefühl der Leute ein ganz anderes. Das ist schade. Che Guevara wollte den neuen Menschen schaffen in Kuba, und das hat ja vielleicht ansatzweise auch ein bißchen geklappt, denn die Ethik der Kubanerinnen und Kubaner ist, soweit ich das beurteilen kann, wirklich um ein paar Meter besser als in vielen anderen Staaten, gerade auch gegenüber den Nachbarländern.

Das heißt, das Niveau an ethischer und moralischer Kompetenz und Kultur ist in Kuba eindeutig höher, und ich denke, das ist diesem Vorgehen geschuldet. "Wir denken an uns alle. Keiner wird zu kurz kommen. Wir gehören alle dazu." So wird gedacht. So war übrigens auch von Raúl Castro und der kubanischen Führung gedacht worden, als vor anderthalb Jahren auch hier im Westen die Nachricht herumgeisterte: Massenentlassungen in Kuba, die wollen 500.000 Leute auf die Straße schmeißen! Das war proklamiert und im Prinzip auch so kalkuliert worden, weil die alle im Grunde wirklich nicht in der Verwaltung arbeiten konnten. Da gab es einfach keine Arbeit für sie. Aber die Situation war mitnichten vergleichbar mit den Verhältnissen hier, wo jeden Tag Massenentlassungen durchgeführt werden. Hier ist das überhaupt kein Problem, aber in Kuba konnte das nicht durchgesetzt werden. Nicht etwa, weil die Leute gesagt hätten: "Nein, wir halten das für falsch." In den Kollektiven, in den Firmen und Büros war es schwierig zu entscheiden, wer denn nun gehen sollte. Man saß da zusammen und fragte: Wer von uns ist es denn jetzt aufgrund welcher Kriterien? Das ist in einem solchen Kollektiv nicht so einfach durchzuführen, deshalb hat das ziemlich lange gedauert.

Aber die Idee war insofern schon richtig, weil den einzelnen Leuten klargemacht wurde: Ich hänge hier nicht im Ministerium herum, um Geld zu bekommen, sondern ich bin hier, um etwas zu leisten. Ich habe eine bestimmte Verantwortung den Kunden und den Bürgern gegenüber, die zu mir kommen und irgendetwas wollen. Dieses Verantwortungsgefühl kommt nicht automatisch mit den Genen, das muß gelernt werden. Und nicht nur das, sondern da muß es Mechanismen geben, die das auch im Alltag gewährleisten oder zumindest wahrscheinlicher machen. Das ist nicht unbedingt eine Öffnung gegenüber dem Westen, aber es sind Veränderungen, die das sozialistische System Kubas, das ein sehr spezielles ist, optimieren und weiterentwickeln sollen.

In Kuba wird auch nicht von "Reformen" gesprochen, weil das hier im Westen immer mißverstanden wird in dem Sinne: "Ah, jetzt werden sie doch ein bißchen schlauer und werden so wie wir, machen Marktwirtschaft und Kapitalismus". Nein, es wird von einer Aktualisierung des Sozialismus gesprochen. Das heißt von einer Anpassung und einer Veränderung ihres Typs von Sozialismus, eines karibischen Sozialismus, an die bestehenden Zwänge und Gegebenheiten unter Beibehaltung möglichst vieler ihrer sozialen und weiteren Errungenschaften. Aber das ist sehr schwer, gerade weil Kuba keine reichen Freunde hat. Und dann wird das so dargestellt, als wenn Venezuela ein großer Gönner wäre und Kuba alles schenken würde. Aber so ist es nicht. Kuba hat 28.000 Menschen als medizinisches Personal oder dergleichen in Venezuela und dafür bekommt es Öl. Das ist ein Handel, aber im Westen wird das in den Medien dann anders dargestellt.

Oder früher das Verhältnis zur Sowjetunion, das so dargestellt wurde, was auch teilweise stimmt, daß die Sowjetunion Kuba subventioniert hätte. Aber das war nicht alles. Hauptsächlich ging es darum, daß Kuba zum Beispiel für Zucker faire Preise bekommt und nicht diese unfairen Weltmarktpreise. Die Zuckerländer haben wirklich kaum Geld bekommen, weil die Preise dauernd nach unten gepurzelt sind. Aber das wurde in den westlichen Medien einfach nicht zur Kenntnis genommen, die rekurrierten immer wieder auf ihr Negativ-Image: "Kuba ist dumm, die können nichts, und die können nicht wirtschaften. Der Sozialismus ist zusammengebrochen, warum bricht er nicht endlich auch in Kuba zusammen?" Das heißt, sie waren nicht in der Lage und auch gar nicht willens, das System als solches zu verstehen. Sie sahen es einfach als ein feindliches an und wollten es von daher bekämpfen. Weil es eine Alternative ist, und die darf es nicht geben.

SB: Eine solche Alternative könnte schon deshalb als wertvoll bewertet werden, weil allein die Bemühungen um die Idee des Sozialismus für sehr viele andere Staaten von Interesse sein könnten ganz unabhängig davon, wie man die Frage beantworten würde, ob in Kuba der Sozialismus schon verwirklicht sei oder nicht oder wie man ihn überhaupt definieren wollte. Da ist schon das Hochhalten dieser Fahne sicherlich ein Ärgernis für viele westliche Staaten.

EG: Absolut, insbesondere für die USA. Wenn man sich einmal vorstellt, daß 90 Meilen vor der Südküste der USA ein Land existiert mit bärtigen Männern, die da irgendwo im Dschungel gekämpft haben, und diese US- Supermacht hat die nicht in den Griff bekommen. Das verletzt natürlich die Ehre und das Patriotismusgefühl der USA, insbesondere der Hardliner, der Konservativen, aber auch der Demokraten, da tun die sich nicht viel. Es gibt viele Gründe, warum es einen richtiggehenden Haß der US-Eliten gegen Kuba gibt. Es gibt aber auch Gegentrends, wirtschaftliche Interessen zum Beispiel.

Seit 2000/2001 gibt es eine Sondervereinbarung zwischen den USA und Kuba, die besagt, daß bestimmte Nahrungsmittel - also Hühnchen, Mais, Weizen usw. - aus den USA nach Kuba geliefert werden dürfen. Das hat teilweise einen enormen Umfang, nämlich mehrere Milliarden US-Dollar, und hängt damit zusammen, daß die Agrarlobby aus Iowa, Wisconsin, Idaho und anderen Bundesstaaten, die Überschüsse produzieren und nicht wissen, wohin damit, gesagt hat: "Mensch, laß' uns doch das Zeug nach Kuba verkaufen." Das wurde dann durch bestimmte Aktivitäten tatsächlich auch ermöglicht, unter einer Spezialbedingung für Kuba: Kuba muß alles, was es geliefert bekommt, also Weizen, Hühnchen oder was auch immer, vorher bezahlen, also bevor die Nahrungsmittel überhaupt geliefert werden.

SB: Auf ihr eigenes Risiko.

EG: Das gibt es in keinem anderen Land. Aber die USA erlauben sich diese Art des Handels mit Kuba. Das ist auch sehr ungewöhnlich.

SB: Vielleicht noch eine Abschlußfrage: Wie ist Ihre Einschätzung zu dem Rio+20-Gipfel und der Repräsentanz Kubas?

EG: In den 20 Jahren nach dem UN-Erdgipfel in Rio de Janeiro 1992 hat sich nicht so besonders viel getan. Es gibt sicherlich in Deutschland, in einigen anderen Ländern, auch skandinavischen wie beispielsweise Schweden, einige Fortschritte in Sachen Nachhaltigkeit. Aber man muß eigentlich insgesamt konstatieren, daß die Religion des Wirtschaftswachstums und der Ausbeutung und viele andere Negativ-Effekte, die nicht nachhaltig sind, weiter zugenommen haben. Das bedeutet, daß sich die Situation insgesamt in der Welt eigentlich verschlechtert hat. Das liegt tatsächlich an dem Unwillen der westlichen maßgeblichen Staaten, also allen voran der USA, ihren Lebensstil, der ja so zerstörerisch ist, dem aber leider viele Völker oder Länder nacheifern wollen, aufzugeben oder zu verändern.

Die maßgeblichen Mächte, seien es jetzt multinationale Konzerne, der IWF, die Weltbank oder teilweise sogar Gremien der UN, sind natürlich maßgeblich durch die USA beeinflußt. Das heißt, daß alles, was aus Sicht der USA in eine negative Richtung geht, durch unterschiedliche Mechanismen abgeblockt wird. Auch die EU-Staaten spielen teilweise eine unrühmliche Rolle bei der ganzen Sache. Sie proklamieren zwar, sie wären fortschrittlich in Sachen Umweltschutz, was im Vergleich zu den USA sicherlich in vielen Fällen auch stimmt. Aber vieles davon ist Wortgeklingel und reine Proklamation statt Aktion. Wenn dann südliche Länder fordern: "Okay, ihr im reich gewordenen Norden, ihr habt eure Wälder schon kaputtgemacht, jetzt wollen wir auch die Möglichkeit haben, unsere Rohstoffe selbst auszubeuten", dann wird dem nicht entgegengekommen, indem man sagt, wir bezahlen bestimmte Dinge für euch, saubere Technologien oder andere Maßnahmen.

Oder dieses Beispiel aus Ecuador: Bei dem Yasuní-Projekt hatte die vorherige deutsche Regierung, als Frau Wieczorek-Zeul Bundesentwicklungshilfeministerin war, Ecuador zugesagt, 50 Millionen Euro zu zahlen. Das war eine sehr geringe Summe. Und dann kommt dieser Niebel von der FDP, bekommt den Posten, den er eigentlich abschaffen wollte, und sagt den Ecuadorianern: "Entschuldigung, ich sehe das nicht ein, ich bezahle da gar nichts." Das ist ein Mechanismus, der sich seit Jahrzehnten wiederholt. Seit 30, 40 Jahren müßten die westlichen reichen Staaten eigentlich 0,7 Prozent ihres Bruttosozialproduktes für Entwicklungshilfe ausgeben. Doch das tun sie nicht. Wir in der BRD sind teilweise bei 0,37 Prozent angelangt, während Schweden, Norwegen und Finnland 0,7 Prozent teilweise sogar überschritten haben, obwohl sie nun nicht besonders reiche Länder sind. Dieses Verhalten des reichen Nordens wird sicherlich dazu führen, daß zum Beispiel von Kuba, aber auch von anderen lateinamerikanischen Ländern, insbesondere von Venezuela und Bolivien, wie ich vermuten würde, ganz deutlich eine Gegenposition artikuliert wird. Dann wird man sehen, ob der Westen sich bewegt und auf fairere Kompromisse und Strategien einläßt oder ob er versucht, immer weiter zu vermeiden, daß der zerstörerische Lebensstil auch nur leise verändert wird. Aber da genau wäre Kuba das Vorbild.

SB: Herr Göll, wir bedanken uns sehr für dieses lange Gespräch.

Edgar Göll während des Interviews - Foto: © 2012 by Schattenblick

Nachdenklichkeit und Engagement - Kuba könnte dem Westen "Entwicklungshilfe" leisten
Foto: © 2012 by Schattenblick

Fußnoten:
[1] Siehe im Schattenblick in INFOPOOL → UMWELT → REPORT:
BERICHT/015: Stark in der Not - Inselsozialismus kreativ - Kubas Ergebnisse (SB)
www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0015.html
INTERVIEW/016: Stark in der Not - Gespräch mit María Cristina Muñoz Pérez (SB)
www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0016.html

[2] Siehe den 1. Teil des Interviews im Schattenblick in INFOPOOL → UMWELT → REPORT:
INTERVIEW/019: Stark in der Not - Gespräch mit Edgar Göll, Teil 1 (SB)
www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0019.html

[3] Nach Informationen des Deutschen Bundestages hat der Bundestag am 26. April 2012 den Antrag der Linksfraktion (17/7416) auf Freilassung der "Miami Five" mit einer Koalitionsmehrheit bei Enthaltung von SPD und Grünen abgelehnt. Damit sei der Bundestag einer Empfehlung des Auswärtigen Ausschusses (17/8395 neu) gefolgt.
http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2012/38739248_kw17_angenommen_abgelehnt/index.html

[4] "Cuba Sí" wurde 1991 als Arbeitsgemeinschaft (AG) beim Parteivorstand der damaligen PDS, später der Partei "Die Linke", gegründet. Das Grundanliegen des heutigen Cuba-Sí-Koordinierungsrates, der sich als Teil internationalistischer Bewegungen gegen Krieg, Faschismus und Ausbeutung versteht, ist die politische und materielle Solidarität mit dem sozialistischen Kuba.

[5] Die "Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba e.V." wurde 1974 gegründet und gilt als älteste Solidaritätsorganisation mit Kuba in Deutschland. Ziel des gemeinnützigen Vereins ist es, die Freundschaft zwischen den beiden Staaten bzw. Völkern zu fördern und zu vertiefen.

[6] Siehe im Schattenblick in INFOPOOL → UMWELT → REPORT:
BERICHT/017: Stark in der Not - Rio+20 angeregt - Ecuador als Beispiel für Nachhaltigkeit (SB)
www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0017.html

[7] Die "Operacíon Milagros", zu deutsch "Operation Wunder", ist ein kubanisch-venezolanisches Projekt, bei dem kostenlose Augenoperationen in vielen Staaten Amerikas, aber auch anderer Kontinente durchgeführt werden. Seit Juli 2004 sendet die kubanische Regierung mit finanzieller Unterstützung Venezuelas Augenärzte in viele Staaten, so nach Pakistan, Portugal, Haiti, Venezuela, Argentinien, Paraguay und Bolivien, die sich nicht als Entwicklungshelfer, sondern als Internationalisten verstehen.

26. Juni 2012