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INTERVIEW/046: Down to Earth - ... sondern ein Teil des Problems (SB)


Interview mit Dorothea Hamilton über die Folgen des globalen Wandels in den Anden, die neue Christianisierung, Einflüsse der Institutionen, den Wertewandel und andere unberechenbare Faktoren

IGC 2012 - Weltkongreß der Geographie vom 26. bis 30. August 2012 an der Universität Köln



Im Februar 2000 veröffentlichte die US-amerikanische Umweltorganisation "Conservation International" in der renommierten Zeitschrift "Nature" [1] eine Liste mit weltweit 25 Gebieten, die sich durch eine extrem hohe Vielfalt an Pflanzenarten auszeichnen. All diese Gebiete, die als "Biodiversitäts-Hotspots" bezeichnet werden, sind durch den Globalen Wandel, einer der Schwerpunktthemen des Weltkongresses der Geographie IGC 2012 in Köln, in ihrer Existenz stark gefährdet. Die tropischen Anden, Westecuador und Kenia gehören ebenso dazu wie der brasilianische Cerrado oder der Mittelmeerraum. Auf nur etwa 1,4 Prozent der Erdoberfläche (2,1 Millionen Quadratkilometer) beherbergen diese Hotspots knapp die Hälfte (44 Prozent) aller bekannten Pflanzenarten weltweit.

Die Andenregion - Foto: 2009 by Martin St-Amant (S23678) via Wikimedia Commons (CC BY-SA-3.0 unported)

Panoramaansicht vom Huayna Picchu über die Stadtanlage in Richtung Berggipfel Machu Picchu
Foto: 2009 by Martin St-Amant (S23678) via Wikimedia Commons (CC BY-SA-3.0 unported)

Allen voran gehören die tropischen Anden zu den artenreichsten Lebensräumen der Erde. Insbesondere die Anden in Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien stehen in vielerlei Hinsicht an der Spitze dieser Top 25 Liste: Hier wachsen allein auf nur 0,2 Prozent der weltweiten Landoberfläche etwa ein Fünftel (15 Prozent) aller bekannten Pflanzenarten, also ca. 50.000 Gewächse. Auch der Anteil an endemischen, d.h. nur hier und nirgendwo sonst auf der Welt vorkommenden Arten, ist extrem hoch (nahezu sieben Prozent). Das gleiche gilt für die Nutzpflanzen, die aufgrund der unterschiedlichen Lebensbedingungen in den verschiedenen Höhenlagen von den Andenbauern in ihrer ganzen Vielfalt angebaut werden. 1.300 verschiedene Kartoffelarten aus dem traditionellen Anbau wurden allein in der Bergregion rund um Cusco, Peru, gezählt.

Neben solch beeindruckender Diversität spielen die Anden, und hier vor allem die in den tropischen Zonen vorkommenden Waldbestände, im globalen Kohlenstoffkreislauf eine herausragende Rolle. In den tropischen Wäldern weltweit, d.h. in den Bäumen und den darunterliegenden Böden, soll mehr Kohlenstoff gebunden sein, als in der Atmosphäre als CO2 vorliegt und jährlich werden 1,3 Milliarden Tonnen Kohlenstoff zusätzlich fixiert. Faktoren wie Diversität und Kohlenstoffsenkung gelten heute als wichtige Ökosystemdienstleistungen - eine Bezeichnung für den hilflosen Versuch, den Nutzen der Natur als zählbaren Wert in das vorherrschende Wirtschafts- und Wertesystem zu integrieren, um den Erhalt und Schutz der ursprünglichen Natur und Vegetation in den Anden zu rechtfertigen. Angesichts der Tatsache, daß bereits 75 der tropischen Bergwälder und Paramo-Gebiete im Andenraum zerstört sind, scheint das durchaus notwendig zu sein. Würden die Reste dieser wertvollen Naturräume unter Schutz gestellt, könnte ein großer Teil der biologischen Vielfalt erhalten werden. Doch nur etwa einem Drittel wurde dieser Schutz bisher gewährt.

Darüber hinaus ist die Andenregion stark durch den globalen Klimawandel gefährdet. Wichtiger als die globale Erwärmung und die Erhöhung der atmosphärischen CO2-Konzentrationen sind dabei Änderungen der Niederschläge. Für weite Teile der Anden werden niedrigere Jahresniederschläge und längere und intensivere Trockenperioden prognostiziert. Neben ökologischen Veränderungen (globale Erwärmung, Zunahme von Extremwetterverhältnissen, Naturkatastrophen ect.) sind durch den verbesserten Zugang zu dieser Region, der sie wirtschaftlich für einen größeren Markt interessant werden läßt, aber auch längst ökonomische Veränderungen wie ein zunehmender Monetarismus spürbar.

Gründe genug also, um am letzten Tag des Kongresses in einer der frühsten Sessions des Tagesprogramms unter dem Obertitel "Mountain Environment and Rural Livelihoods in the Tropical Andes: Local Responses to Global Change" [auf Deutsch: Bergregion und landwirtschaftliche Lebensgrundlagen in den tropischen Anden: Lokale Auswirkungen des globalen Wandels] die globale Bedeutung der tropischen Anden und die Herausforderungen, denen diese Bergregion aufgrund globaler Veränderungen gegenübersteht, zu thematisieren.

Die darin vorgestellten Projekte und Studien aus Peru, Kolumbien und Argentinien zeigten allerdings eindrücklich, daß sich zumindest in Feldstudien vor Ort, bei der Sorge um die Agrarwirtschaft, die Klima- oder die Umweltprobleme dieser nur dünn besiedelten Region nicht an den Menschen vorbeidenken läßt und daß sich aus möglicherweise notwendigen Anpassungsmaßnahmen wiederum Risiken und Konsequenzen für die Lebensgrundlagen und Lebenswirklichkeit der indigenen Bevölkerung ergeben. So sah sich die Geographin Dorothea Hamilton von der Philipps Universität Marburg bei ihren Untersuchungen und Befragungen der Menschen vor Ort bei ihrem ursprünglichen Forschungsvorhaben zu den Auswirkungen des Klimawandels in der vertikal angelegten Landwirtschaft in Höhenlagen von 3.000 bis 5.000 Meter über dem Meeresspiegel und der "Rolle des vertikalen Austausches von Nutzpflanzen für die sozio-ökologische Resilienz [2] in den Anden, als Beispiel des Klimawandels" [3] (so der Titel des Referats zu ihrer Diplomarbeit) gewissermaßen von den Bedürfnissen der Menschen und den globalen bzw., wie sie es nannte, veränderten "institutionellen" Einflüssen überholt, so daß sie es angemessen fand, ihren Ausführungen kurzfristig einen anderen Schwerpunkt zu geben.

Foto: © 2012 by Schattenblick

Dorothea Hamilton im Gespräch
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Quechua Gemeinschaften [4], die Dorothea Hamilton untersucht hat, sind in der Umgebung von Cusco in einem sogenannten Potato-Park zusammengefaßt, der mit Hilfe einer peruanischen NGO weitgehend durch die indigenen Gemeinden als Subsiditätswirtschaft sowie mit Hilfe traditioneller Einrichtungen wie der regelmäßig stattfindenden "Asambleas" [5] selbst organisiert wird. Die Erträge reichen in der Regel, um die eigene Familie oder die Dorfgemeinschaft zu versorgen. Die Referentin konnte beobachten, wie traditionelles Wissen hier zunehmend an Bedeutung verliert, obwohl Institutionen der NGO bei den Menschen vor Ort genau diesem Trend aus gutem Grund entgegenzuwirken versuchen.

So muß sich das traditionelle, auf Gemeinsinn gründende Ayllu-System [6] gegen die separativen Einflüsse des Globalen Wandels wie Infrastruktur und Telefonanschlüsse behaupten. Letztere bringen neben Umweltverschmutzung und schnelleren Fortbewegungsmöglichkeiten (Autos) sowohl positive institutionelle Unterstützung wie den Einfluß von NGO Einrichtungen mit sich, treiben aber auch gleichzeitig über die Wertschätzung solcher Einflüsse den Wertewandel und die Vereinzelung innerhalb der Gemeinschaften voran.

Letztere wie der zunehmende Bedeutungsverlust von traditionellen spirituellen Werten oder die Hinwendung zu neuen Religionen hätten, wie Dorothea Hamilton anmerkte, einen direkten Einfluß auf den weniger achtsamen Umgang mit der eigenen Umgebung und spielten bei sämtlichen Belangen der Gemeinschaft, bei der Solidarität untereinander und bei allen Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt eine starke Rolle. Stelle man sich die komplette Abschaffung des gewissermaßen von Natur aus resilienten Ayllu-Systems vor, mitsamt der von lokalen Autoritäten (darüber hinaus nur von solchen Cumoneros, die sich nicht als "Cristianos" [7] bezeichnen) ausgeübten Rituale für ursprüngliche Quechua Gottheiten, würden ihrer Meinung nach auch die letzten Schranken fallen, um die Natur über ihre Kapazität hinaus zum Zwecke der Wertschöpfung auszubeuten.

Im umgekehrten Sinn sieht sie in einer Stärkung und Erweiterung der existierenden traditionellen Einrichtungen sowie in der Anpassung des Ayllu-Systems an die neuen Gegebenheiten eine Möglichkeit, die potentiellen Gefahren durch globale Veränderungen und Einflüsse insgesamt besser abzupuffern bzw. im Fachterminus der Geographen: die Störungstoleranz d.h. Resilienz gegenüber den Gefahren durch den Globalen Wandel zu vergrößern.

Alte Götter neben christlichem Kreuz auf dem Hausdach sichern die gute Ernte. - Foto: 2012 by Fernando Coun via Geolocation (CC BY-NC-ND-3.0 unported)

Toritos de la fortuna, Pisac. In den letzten 500 Jahren hat sich aus traditionellem und katholischem Glauben ein Synkretismus herausgebildet, der sich in Symbolen und Ritualen widerspiegelt.
Foto: 2012 by Fernando Coun via Geolocation (CC BY-NC-ND-3.0 unported)

Allerdings dürften diese Vorschläge auf keinen Fall von Personen außerhalb des Ayllu-Systems kommen, da die "Comuneros" [8] hier, vielleicht historisch bedingt, ein gesundes Mißtrauen an den Tag legten. Ihrer Erfahrung nach mögen Ideen von außerhalb zwar für die Welt draußen gut sein, nicht aber unbedingt auch für die Comuneros selbst.

So stand für die Referentin am Ende ihrer Ausführungen fest, daß nicht nur die Auswirkungen der Industrialisierung, des Weltmarktes und der Zivilisation, die heute unter den Modebegriffen "Globalisierung und Globaler Wandel" zusammengefaßt werden, das letzte Dorf in den Anden erreichen, sondern auch die vermeintlichen Helfer von außerhalb ein Teil davon sind. All jene, die sich in irgendeiner Weise mit der Problematik negativer Einflüsse befassen, müßten streng genommen sich selbst als Faktor in ihre eigenen sozio-ökologischen oder - ökonomischen Forschungen einbringen und ihre eigenen Anteile an diesen Entwicklungen kritisch hinterfragen. Statt von einer beobachtenden Position des Forschers Ratschläge zu erteilen, die keiner hört und niemand wissen will, sollte man mit den Menschen vor Ort zusammenarbeiten und ihnen vor allem anderen zuhören.

Im Anschluß an ihren Vortrag ergab sich die Gelegenheit zu einem Gespräch mit der Geographin, in dem sie dem Schattenblick Einblicke in ihre Feldforschung ermöglichte.

Dorothea Hamilton und SB-Redakteur - Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Referentin im Interview vor der Mensa der Universität in Köln
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Sie sprachen in ihrem Referat von den Veränderungen, die traditionelle Einrichtungen durch institutionelle Systeme wie Kirchen oder NGOs erfahren. Wurde die Bevölkerung in der Andenregion, auf die Sie Ihre Feldforschung konzentrieren, nicht bereits zu Zeiten der Kolonialisierung schon von der katholischen Kirche kräftig missioniert?

Dorothea Hamilton (DH): Ja natürlich. Meine Forschungsgegend liegt in der Nähe von Cusco in Peru. Cusco war seinerzeit die Hauptstadt des Inkareichs und damit natürlich auch ein Hauptziel der Spanier. Auf jeden Fall brachte das eine Christianisierung mit sich. Dann gab es die Haziendas [9] und die Großgrundbesitzer, welche die Angehörigen der indigenen Bevölkerung als Zwangsarbeiter benutzt haben und darüber hinaus darauf bestanden, der von ihnen mitgebrachten Religion zu folgen. Auf diese Weise hat sich bereits in den letzten 500 Jahren ein Synkretismus gebildet, in dem Maria gleichzeitig als Mutter Erde verehrt wurde. Auch heute noch wird in ganz traditionellen Riten wie das Cocablätter-Ritual auch immer zu Maria gebetet. Anders gesagt kann man Katholizismus und traditionelle Religion heute nicht mehr voneinander trennen. Beide sind zu einer neuen Religion verschmolzen. Das Christentum ist einfach Teil des Ganzen geworden und unterscheidet sich in seiner Herangehensweise nicht wesentlich von dem Traditionellen, weil es in beidem, auch im katholischen Glauben, darum geht, etwas zurückgeben zu müssen. Der Unterschied zu dem neuen Verständnis von einer modernen Religion ist, daß diese Rückgabepflicht nicht mehr existiert. Man ist nur noch Christ, weil man in die Kirche geht und die Bibel liest und nicht mehr, wenn man bestimmte traditionelle Riten ausübt. Man darf sie auch gar nicht mehr machen, weil das in vielen Fällen als "vom Teufel" angesehen würde. Eine meiner Fragen, die ich nicht mehr untersuchen konnte, wäre, ob das für die Menschen dort einfach nur heißt: "Ich laß dann diese Rituale sein. Ich puste halt eben nicht mehr meine Coca-Blätter zu den vier Winden..." oder ob dies auch insgesamt einen Gesinnungswandel mit sich bringt oder sich dadurch ihr ganzes Verhältnis zur Natur ändert.

Meerschweinchen und Hühner wohnen mit den Menschen zusammen. - Foto: 2008 by Giggel via Panoramio (CC BY-3.0 unported)

Ayni heißt auch: Wohnraum für alle, Haustiere inklusive, in Ollantaytambo, Peru.
Foto: 2008 by Giggel via Panoramio (CC BY-3.0 unported)

SB: Wie haben es denn die christlichen Fundamentalisten aus den USA überhaupt schaffen können, die sogenannten Cristianos, die Menschen vor Ort, zu missionieren? Ist es ihnen gelungen, an den örtlichen Asambleas teilzunehmen? Haben sie eigene örtliche Versammlungen ausgerufen, oder wie hat diese Missionierung ihren Anfang genommen?

DH: Ich bin mir nicht ganz sicher, wann und wie es genau angefangen hat. Ich habe auch nur mit Comuneros [8] gesprochen, die sich Cristianos nennen. Denen zufolge fing es in einer Comunidad an, in die Kirchenangehörige irgendeiner evangelikalen Bewegung, also Cristianos, kamen, die dann dort anfingen, eine kleine Gemeinde aufzubauen. Den genauen Anfang kenne ich nicht. Ich weiß auch nicht, woher und wie diese Bewegung Zulauf bekommen hat, aber mittlerweile existiert heute in dieser Comunidad ein ziemlich großes Gebäude, das sehr viele Leute regelmäßig besuchen.

Man darf aber auch nicht die positiven Effekte vergessen, die diese Bewegung mit sich gebracht hat. So soll es in der Zeit davor - wobei dieses "Vorher" in den Kontexten immer schwer zu bestimmen ist - sehr viel Alkoholismus gegeben haben. An traditionellen Festen wie dem Karneval sollen sich die Einheimischen oftmals bis zur Ohnmächtigkeit besoffen haben. Sowohl zu diesen Gelegenheiten aber auch allgemein soll der Alkoholkonsum inzwischen allein in der Comunidad stark gesunken sein, weil eben diese Cristianos ganz strikt gegen den Alkohol sind.

Anders gesagt, man muß auch auf solche positiven Effekte achten, ehe man den Einfluß dieser neuen Institutionen verurteilt. Doch die wohl schwerwiegendste Veränderung, die ich bei meinen Untersuchungen feststellen konnte, ist, daß sich die Comuneros, die ursprünglich zu einer Comunidad [8] gehören, nun in Cristianos und Católicos spalten und diese Zugehörigkeit als Bestandteil der eigenen Identität betrachten.

Ich habe das gewissermaßen indirekt herausbekommen, indem ich allen die Frage gestellt habe: Nehmt ihr an einer der anderen Organisationen teil? Das hätte dann alles mögliche, also auch verschiedene staatliche Programme sein können, aber die Antwort hieß immer: entweder Cristiano oder Católico. Das erklärte alles weitere. Neben dem eigenen Namen und der Comunidad, aus der sie stammen, ist die Religionszugehörigkeit bereits eine der drei großen Dinge, mit denen sie sich identifizieren. Wie genau dieser Prozeß sich vollzogen hat, konnte ich nicht untersuchen. Das wäre aber eine sehr spannende Frage.

SB: Gab es bei Ihren Befragungen denn auch welche, die sich ebenso klar dazu bekannt haben, ausschließlich alte Naturreligionen auszuüben oder den traditionellen Glauben an die alten Götter zu pflegen?

DH: Nein, es würde niemand sagen: "Ich glaube an Naturreligionen." Alle sind Católicos. Das liegt durchaus am politischen System, weil man nach dem peruanischen Gesetz eigentlich nur katholisch sein kann. Und da die meisten heute zur Schule gehen, ist man einfach katholisch. Punkt. Das ist so miteinander verwoben, gehört so eng zusammen, daß man diese Identität besitzt. Wenn du die Leute aber direkt fragst: Cristiano oder Católico, dann heißt es ganz klar: Católico. Das ist auch zwischen den Menschen dort eigentlich kein Problem. Aber wenn man die Gemeinschaft näher kennt, merkt man halt, daß bestimmte Sachen nur noch von bestimmten Gruppen separat gemacht werden.

SB: In der Diskussion vorhin wurden ja unter anderem auch die Argumente angeführt, das sei alles gar nicht so schlimm und 'Global Change' habe es doch immer schon gegeben. Dabei wurde an die Kolonialzeit erinnert, die auch vieles verändert habe... Ist denn die Geographie so neutral und wertfrei, daß sie die Kolonialzeit nur als eine weitere Zeitspanne betrachten kann, in der bestimmte Veränderungen stattgefunden haben? Sollten Geographen oder Wissenschaftler den Einfluß der Kolonialzeit hier nicht eher kritisch hinterfragen?

DH: Ich würde nicht gerne repräsentativ für die gesamte Geographie sprechen. Was mich betrifft, versuche ich zunächst immer, die Dinge wertfrei zu betrachten, sie einfach von einer möglichst hohen Meta-Ebene aus als Veränderung zu sehen. Wenn man von Resilienzsystemen ausgeht und komplexe Systeme analysiert, dann stellt man Veränderungen fest. Manche sind für den Zusammenhang unumkehrbar. Es gibt aber auch resiliente Systeme, die es schaffen, solche Veränderungen zum großen Teil abzufedern. Natürlich muß man im Falle der Kolonialisierungseinflüsse ganz genau schauen, was da passiert ist, was sich verändert hat oder wie sich die Comunidads daran im Unterschied zu heute angepaßt haben. Dabei kann man nicht immer ganz wertfrei bleiben, aber es bringt auch relativ wenig, das Ganze nur negativ zu sehen. Es ist ja bereits passiert und man kann es daher als Forschungsgrundlage für weitergehende Fragen nutzen: Warum hat sich damals die traditionelle Kultur nicht komplett aufgelöst? Warum sind nicht alle ausgestorben, obwohl sie die ganzen eingeführten Infektionskrankheiten bekommen haben, für die ihr Immunsystem nicht gewappnet war; obwohl sie plötzlich Kühe und Kuhmilch hatten; und obwohl sich eigentlich auch alles andere in ihrem Lebensbereich komplett geändert hat? Was war da der Unterschied zu dem, was hier heute passiert? Warum haben die ursprünglichen Einwohner und ihre Traditionen noch weitere 500 Jahre überlebt? Und warum sieht es heute so aus, als gäbe es das alles in 50 Jahren bereits nicht mehr? Das sind doch die eigentlich interessanten Fragen. Natürlich bringt jede Kolonialisierung immer großen Schaden mit sich. Den kann ich heute aber nicht mehr nachträglich messen oder quantifizieren. Ich kann auch keine Aussagen darüber treffen, was damals hätte geschehen können. Aber ich kann heute den Unterschied zu damals untersuchen.

Mädchen in traditioneller Kleidung - Foto: 2008 by yvr101 via Panoramio (CC BY 3.0 unported)

Die Jugendlichen wollen auch ihre traditionelle Kleidung nicht mehr tragen.
Foto: 2008 by yvr101 via Panoramio (CC BY 3.0 unported)

SB: Haben sie denn bereits Hinweise dafür gefunden, daß sich die heutigen Veränderungen sehr von den früheren unterscheiden?

DH: Die Veränderungen heute sind anders. Ich bin mir aber nicht sicher, woran das liegen könnte. Das gehörte bisher nicht in den Bereich meiner Untersuchungen. Das wäre möglicherweise ein zukünftiges Forschungsprojekt. Ich könnte auch nicht sagen, wie schnell der Wandel fortschreitet. Für die Geschwindigkeit ist hier im wesentlichen die Resilienz [2] der Systeme verantwortlich.

In der Resilienzforschung wird gerne von Schocks gesprochen und das klingt meiner Ansicht nach immer nach einem einmaligen, großen Event. Inwieweit die Kolonialisierung vorher so ein Schock war oder inwieweit das heute im Vergleich dazu eine langsame oder schnelle Veränderung ist, die viele Bereiche gleichzeitig erfaßt, weiß ich nicht. Aber ich würde sagen, vor 500 Jahren ging das sehr viel langsamer voran. Da kam dann zunächst mal einer, dann haben andere eine Hazienda hingesetzt und die Einheimischen zu Fronarbeiten verpflichtet. Dagegen haben die Comuneros eine Art Doppelsystem entwickelt, indem sie nach außen hin das gemacht haben, was von ihnen verlangt wurde, aber intern ihre eigene Kultur und ihr eigenes Leben behielten. Dieses Doppelsystem existiert in dieser Form heute nicht mehr. Inzwischen gibt es durch die Jugend, die ganz andere Interessen entwickelt, eine viel graduellere Veränderung. Die Jugendlichen wollen Konsumgüter wie das Internet oder Handys. Das ist verständlich. Sie wollen auch ihre traditionelle Kleidung nicht mehr tragen, nur noch an Festen und durch all das geschieht eine sehr viel tiefgreifendere Veränderung als beim letzten Mal, bei dem es noch eine Art Widerstand oder Abwehrreaktion gab: "Wir müssen das, deshalb machen wir es eben zum Schein nach außen - aber innen verändern wir uns nicht."

Cusco Graffity - Foto: 2012 by IRGlover via Flickr (CC BY-NC-2.0)

Inzwischen gibt es durch die Jugend, die ganz andere Interessen entwickelt, eine viel graduellere Veränderung.
Foto: 2012 by IRGlover via Flickr (CC BY-NC-2.0)

SB: Woran läßt sich das erkennen?

DH: Ein großer Teil dieser innerlichen Eigenmächtigkeit ist der Gemeinschaftssinn, und der wird zunehmend untergraben. So löst sich vor allen Dingen durch die Individualitäts- und Ökonomisierungsbestrebungen das Konzept des Aynis [10] langsam auf. Es gibt inzwischen vieles, was sich leichter aneignen läßt, um sich damit einen höheren Standard in der Gesellschaft zu verschaffen als früher. Wenn beispielsweise Reichtum bisher daran gemessen wurde, wie viele Kartoffelsorten man hatte, dann mußte man sich diese Kartoffelsorten und das notwendige Wissen dafür über viele Jahre erwerben. Einen Fernseher kann man sich aber einfach kaufen. Und dafür gehen die Männer dann eben drei Jahre auf dem "Inka-Trail" arbeiten, tragen das Gepäck der Touristen und kommen dann mit entsprechend viel Geld zurück, um sich solche Statussymbole wie ein Auto leisten zu können. Damit können sie dann wiederum Touristen durch die Gegend fahren, "Taxi machen". Dann geht das "Reichwerden" natürlich viel schneller.

Aber eine sehr interessante Frage, die auch über das hinaus geht, was ich bisher untersucht habe, die ich mir jedoch durchaus stelle, ist die zur Entwicklung in der Jugend. So ist zum Beispiel auf privaten Photos ganz aufschlußreich zu erkennen, wie sich junge Menschen selbst und ihre Umwelt wahrnehmen und wie wenig sie sich darin von Jugendlichen der sogenannten zivilisierten Welt unterscheiden.

Wenn man beobachtet, welche Elemente für die heutige Jugend wichtig werden, bekommt man gewissermaßen eine Vorstellung von dem, was auf diese Kultur zukommen wird. Es gibt hier bereits viel profundere Veränderungen als zu Zeiten der Kolonialisierung. Die sind auch der inzwischen viel stärkeren Vernetzung geschuldet, die auf drei Ebenen stattfindet, also institutionell, ökonomisch und infrastrukturell und sie schreiten einfach sehr schnell voran.

So gab es zum Beispiel in der spanischen Zeit nur einen etwa vierstündigen Fußweg von der höchsten Comunidad bis hinunter nach Pisac, für den man bergauf etwa sechs Stunden brauchte, wenn man so schnell lief wie ein Einheimischer. Seit etwa zehn Jahren gibt es dafür eine Straße, auf der man diesen Weg mit dem Auto in einer halben Stunde schafft. Das heißt, genau genommen gab es die Straße zur Hälfte schon seit vierzig Jahren, aber man mußte dann für den Rest des Wegs immer noch drei Stunden Fußmarsch berechnen. Allein dadurch war man viel schlechter an die umliegenden Siedlungen in tieferen Höhenlagen angebunden. Das dortige Leben war in den Comunidads nicht so präsent wie heute.

Ich habe auch neben meiner eigenen Forschung beobachten können, welche Bedeutung dieser infrastrukturelle Faktor für die Entwicklung der Region hat. Dort ist in einer anderen Comunidad die einzige wichtige Straße ins Tal hinunter bereits seit einem Jahr durch einen Erdrutsch blockiert. Für Mitarbeiter der NGOs ist es somit zu kompliziert, da hinaufzugelangen, obwohl der Weg bergab im Tempo der Einheimischen in einer halben Stunde zu schaffen ist. So kommt es nun, daß die Kinder zwar weiterhin täglich zu Fuß runter in die Schule und wieder herauf gehen. Aber bereits die Hausfrau macht diese Strecke nicht mehr jeden Tag. Die Folge davon ist, daß die Leute dort schon merklich weniger spanisch und dafür viel mehr Quechua sprechen. Sie sind wieder viel mehr in ihrer eigenen Welt. Also diese physische Anbindung hat einen ganz großen Einfluß darauf, wie sich diese Comunidads weiterentwickeln.

SB: Um noch einmal auf die Rolle der Jugend zurückzukommen, auf diesem Kongreß wurde viel darüber gesprochen, welche Bedeutung die Ausbildung und der Unterricht junger Menschen für eine nachhaltige Entwicklung hat. Würden Sie das für Ihr Forschungsfeld ebenfalls bestätigen oder ist die Abkehr von den alten Traditionen in den Anden, die vor allem von den jungen Leuten dort vorangetrieben wird, schon etwas, das sich nicht mehr beeinflussen läßt?

Logo eines CD-Ladens - Foto: 2011 by cadillacjr2002 via Flickr (CC BY-SA 2.0 generic)

In der Stadt liegt das Geld auf der Straße? Moms N Pops HIP HOP Shop CD-Laden in Lima
Foto: 2011 by cadillacjr2002 via Flickr (CC BY-SA 2.0 generic)

DH: Es gibt in den Anden schon sehr lange die Tendenz, daß die Jugend nicht mehr dableiben will. Vor etwa 40 Jahren gab es bereits einen ersten signifikanten demografischen Anstieg, weil man eine Krankenstation eingerichtet hatte und die Sterblichkeitsrate danach enorm heruntergegangen ist. Darüber gibt es zwar keine offiziellen Daten, aber die Leute berichten selbst, daß die Familien vorher etwa zwei Kinder im Durchschnitt hatten, aber nun plötzlich sechs oder sieben. Daher mußte ein großer Teil dieser Menschen einfach gehen und viele wollten das auch. Einige sind später wiedergekommen, aber der Trend, daß die Jugend hier auf Dauer keine Zukunft mehr sieht, bleibt bestehen. Viele zieht es nach Lima, weil dort das Geld auf der Straße liegt. Relativ wenige sagen: "Ich möchte hierbleiben." Interessanterweise ist das oft das jüngste Mitglied einer Familie, das vielleicht vorher noch studieren, aber dann hierher zurückkommen möchte, um etwas für die Comunidad zu machen.

Jugend ist immer kritisch und auch immer wichtig für eine Region. Ich glaube, es wird überall auf der Welt schwierig sein, der Jugend zu zeigen, daß es dort, wo sie leben, bereits am schönsten und besten ist und sie diesem Ort wirklich etwas zu geben haben. In den Anden ist das allerdings noch schwieriger, wenn die jungen Leute sehen, daß man in der Stadt Cusco Geld verdienen kann, ohne daß man Schafe auf die Weiden führen oder Kartoffeln mit der Hand ernten muß und daß man dort nicht jeden Tag "Chunio" [11] essen muß, also getrocknete Kartoffeln. Das alles scheint für die jungen Leute natürlich äußerst attraktiv.

Wie die Rückmigration dann später wieder vonstatten geht, damit das Wissen weitergegeben werden kann, ist mir nicht klar. Nun kann ich auch nicht sagen, wieviel Wissensvorsprung ein 17jähriger einem Zwölfjährigen gegenüber hat. Denn aus meiner Sicht scheint es so, als wäre das Wissen über die Medizinalpflanzen, über Anbautechniken oder über die Tiere von Anfang an einfach da und wird zwar im Laufe der Jahre ein bißchen mehr, aber es gibt nicht wirklich eine bestimmte Phase, in der man den Jugendlichen besonders viel beibringen sollte, zum Beispiel über das traditionelle Wissen. Die Jugendzeit ist hier wie überall auf der Welt, die Phase, in der man sich öffnet und die unmittelbare Umgebung und Umwelt um einen herum genau kennenlernt. Natürlich ist es wichtig, daß man für die jungen Menschen Möglichkeiten schafft, ihre Ausbildung hier oder überhaupt irgendetwas vor Ort machen zu können, was dann tatsächlich auch nachhaltig ist.

SB: Wir haben bereits über den Wertewandel und den Verlust des traditionellen Wissens gesprochen. Haben Sie bei Ihren Befragungen auch etwas über traditionelle Methoden in der Landwirtschaft erfahren können? Konnten Sie das ein bißchen vergleichen mit den moderneren Methoden, die heute propagiert werden? Und wie empfinden es die Bauern selbst, hat sich für sie irgendetwas deutlich verbessert?

Kartoffelernte in einem Gebiet zwischen Cusco und Pisca - Foto: 2008 by Giggel via Panoramio (CC BY-3.0 unported)

Drei Bauern sind zum Kartoffelpflanzen nötig.
Foto: 2008 by Giggel via Panoramio (CC BY-3.0 unported)

DH: Nun, vor etwa 30 Jahren kamen die große Kartoffelfirmen in die Anden und haben dort die - ich weiß nicht, ob genmanipulierten, aber auf jeden Fall genetisch verbesserten Kartoffelsorten, die resistenter klimatischen Schocks gegenüber sind, mitgebracht. Da gab es dann auf einmal nur noch acht Kartoffelsorten statt tausend, die nun vornehmlich angebaut werden. Das hat auch in vielen Bereichen tatsächlich sehr gut funktioniert, weil diese Sorten viel mehr Ertrag bringen. Aber abgesehen davon ist auf diese Weise seit den 70er Jahren viel von dem traditionellen Wissen verloren gegangen. Doch die NGO, die hier tätig ist, hat sich zur Aufgabe gemacht, das traditionelle Wissen zu bewahren und es intern weiterzugeben.

Natürlich sind die traditionellen Anbaumethoden sehr arbeitsaufwendig. Um beim Beispiel Kartoffeln zu bleiben, braucht man zum Kartoffelpflanzen immer drei Leute. Einer nimmt die Grabschaufel, das ist so ein langer Spaten, und haut sie in den Boden. Damit wird ein Loch gemacht. Dann kommt eine Frau, die die Kartoffel reinlegt, die nächste den Dung und dann wird es wieder zugemacht. Mit Traktoren kann man dort gar nicht arbeiten, das würde nicht gehen, aber in jedem Fall ist es ein sehr langwieriger Prozeß.

Ein weiteres interessantes Ergebnis meiner Arbeit ist, daß diese Leute ihr eigenes Essen als sehr wichtig einschätzen. Die Landwirtschaft ist ja, wie ich im Vortrag erklärte, vorwiegend subsidiär. Nur wenige verkaufen ihre Erzeugnisse sonntags auf dem Markt. Aber das ist wenig relevant. Geld bekommt man woanders her. Aber das "gute Essen" ist sehr wichtig. Und auch wenn man die Männer fragt, die auswärts gearbeitet haben, manche für fünf Tage und manche für drei Monate, warum sie das nicht mehr machen oder warum sie es nicht gerne machen, dann sagen sie in der Regel: "Weil das Essen nicht gut ist." Also der Bezug zum traditionellen Essen ist sehr groß.

Backen in Pisac - Foto: 2012 by IRGlover via Flickr (CC BY-NC-2.0)

Das gute Essen ist sehr wichtig.
Foto: 2012 by IRGlover via Flickr (CC BY-NC-2.0)

SB: Abgesehen davon, daß man sich eine solche entschleunigte Zusammenarbeit nicht nur kommunikativ, sondern auch sehr effektiv vorstellen kann.

DH: Natürlich, es hängt alles zusammen. Das ist auch die Voraussetzung für komplexe Systeme. Wenn man etwas daran ändert, dann ändert sich alles. Wenn ich mehr nach individuellen Vorteilen strebe, dann brauch' ich halt die Comunidad nicht mehr so sehr. Betrachten wir jedoch den theoretischen Hintergrund der Resilienz, dann gehört es zu seinen Grundannahmen, daß ein System immer dann stabil ist, wenn es sich auf vielen verschiedenen Faktoren gründet und es nicht an einem einzelnen hängt. Auf diese Weise stehen hier Stabilität und Effizienz eigentlich in einem Gegensatz zueinander. Das heißt, wenn ich alles mit einer einzigen Maissorte oder Kartoffelsorte bepflanze und es dann einmal in zehn Jahren ein schlechtes Jahr gibt, also vielleicht zuviel Frost beziehungsweise zu viel oder auch zu wenig Regen, oder ein andere sogenanntes "extreme event", dann hat man plötzlich überhaupt nichts mehr. Wenn ich einen Hang dagegen wie früher mit etwa 200 verschiedenen Nutzpflanzen bepflanze, dann habe ich in jedem Fall irgendwas zu essen. Aber das läßt sich eben schlecht mit der Idee des Kapitalismus, der Effizienz, des Mehrwerts, der für mich mehr Wert bringt, vereinbaren.

Das führt dann zwangsläufig zur Frage nach dem sogenannten "endogenous developement" [12], also wie kann man eine sozio-ökonomische Entwicklung bewirken, die beiden Faktoren gerecht wird. Man kann den Leuten heute nicht mehr sagen: "Ihr braucht hier doch gar kein Geld."

Zum Abschluß meiner Untersuchungen habe ich den Leuten dort eine Art Resümee meiner Arbeit gegeben und zumindest die für sie möglicherweise relevanten Ergebnisse zusammengefaßt. Daraufhin sagten sie mir, daß es bis vor 40 Jahren hier durchaus möglich gewesen sei, ohne Geld zu leben. Heute geht das nicht mehr. Das Geld muß aber irgendwo herkommen. Und wenn es nicht aus der landwirtschaftlichen Produktion erwirtschaftet werden kann, weil der Boden zu karg ist, dann muß es woanders herkommen.

Das verändert die gesamte Lebensphilosophie. Wenn jemand beispielsweise als Taxifahrer oder auf dem Inka-Trail den Touristen das Gepäck trägt, erweitert er möglicherweise durchaus seinen Horizont, aber er kann dann nicht mehr an den gemeinschaftlichen Asambleas [5] teilnehmen. Wenn dann aber diese Asambleas nur noch 60% der Mitglieder einer Comunidad repräsentieren und nicht mehr 100%, dann ist es keine Basisdemokratie mehr. Das heißt, diese Veränderungen sind sehr komplex, alles ist davon betroffen. Deshalb stelle ich in meinem Fazit auch die Frage, wie man die Institution darin unterstützen kann, sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen, um nicht in den alten Denkmustern zu verharren. Denn das würde langfristig gesehen auch nicht mehr nachhaltig sein.

Der Weg von Cusco zum Macho Picchu führt über den alten Inkapfad. - Foto: 2005 by Pajaro via Wikimedia Commons (gemeinfrei)

Wer auf dem Inka-Trail für Touristen arbeitet, kann nicht mehr an den Asambleas teilnehmen.
Foto: 2005 by Pajaro via Wikimedia Commons (gemeinfrei)

SB: Sie sprachen von genetisch veränderten oder manipulierten Nutzpflanzen. Ist hier eine ähnliche Entwicklung wie in Afrika zu beobachten, daß die Bauern, die diese gentechnisch veränderten Pflanzen nutzen, gewissermaßen auch Dünger und die passenden Pestizide von dem Saatguthersteller als Gesamtpaket mitkaufen müssen und dadurch in eine Abhängigkeit geraten?

DH: Diese verbesserten Kartoffelsorten wurden bereits in den 70er Jahren eingeführt. Da gab es meines Erachtens noch keine grüne Gentechnik, wie man sie heute versteht. Es gibt zwar tatsächlich durchaus mehr Abhängigkeiten, aber das ist etwas anderes. Denn die Menschen in den Anden sind grundsätzlich ganz gegen Düngemittel und Pestizide eingestellt. In dem traditionellen Ayllu-System [6] muß der Wurm sogar einen Teil der Kartoffel haben, damit das ganze im Austausch bleibt. Aber auch das ändert sich langsam. Also nach außen hin sagen die Bauern zwar, wir benutzen keine Pestizide, aber manchmal tun sie es eben doch, weil es so viel einfacher ist und bessere Erträge bringt. Von daher sind dort auch solche Abhängigkeiten zu finden, aber man findet sie mehr bei Statussymbolen oder auch bei der Bildung. Bildung ist zwar eigentlich kostenlos, aber es müssen Schuluniformen angeschafft werden, und dafür braucht man dann wieder Geld.

Dorothea Hamilton im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Was heißt das Ayllu-System für die Andenbewohner selbst? Könnte es nicht sein, daß ihre Vorstellung davon ganz anders ist, als man das aus der Sicht des Wissenschaftlers vielleicht nachvollziehen kann?

DH: Also die Bauern benutzen den Begriff des Ayllus kaum. In einem sehr interessanten Buch von Josef Estermann "Andine Philosophie" [13] wird versucht, dieses sehr praktische und wenig kopflastige Wissen der andischen Bevölkerung in einen für europäische Hirne verständlichen Zusammenhang zu bringen und dadurch zu erklären, was hinter der "andinen Philosophie" eigentlich steht. Wissen in den Anden ist vor allem praktisch. Es ist keine Theorie. Das heißt, es gibt zwar den Ayllu und die meisten wissen auch, daß es das gibt, aber es interessiert sie nicht weiter. Für die meisten Menschen dort ist dieses Konzept total irrelevant wie eigentlich jedes Konzept für sie irrelevant ist. Was funktioniert, das funktioniert! Das ist ein ganz pragmatischer Ansatz. Und auf diese Weise funktioniert es schon sehr lange und auch sehr gut. Das Wissen wird mündlich überliefert und ist eigentlich so weitreichend und über lange Zeiträume gedacht, daß es nicht nur jetzt angewendet werden kann. Ich benutze den Begriff nur, weil ich selber nicht so sehr über praktisches Wissen lerne, sondern vor allen Dingen über meinen Kopf, so daß ich eine solche Übersetzung bzw. ein solches Hilfsmittel brauche, um dem Ganzen einen Namen zu geben und es gleichzeitig als eine andere Denkweise zu sehen. Das Ayllu ist aber nicht nur ein Konzept, das eigentlich Dorf heißt. Manche übersetzen Ayllu auch einfach mit "Sippenverband", aber das trifft es auch noch nicht, weil es dabei letztlich um wesentlich mehr geht.

SB: Sie sprachen über die verschiedenen Fremdeinflüsse oder "new actors" [= neue Akteure] wie die Christianisierung, die Vertreter der NGOs, neue Kirchen, die Medien, über die der globale Wandel bis in die letzten Winkel der Anden getragen wird. Sehen Sie sich als Wissenschaftlerin nicht auch selbst als Repräsentantin dieses Wandels, wenn Sie mit Ihren Fragebögen an die Türen der indigenen Bevölkerung klopfen und Fragen an sie richten, auf die jene nicht unbedingt von selbst gekommen wären?

DH: Auf jeden Fall. Ich kann nicht so tun, als würde ich durch meine Präsenz nichts verändern. Die Menschen hier sind nicht so offen. Es liegt nicht in ihrer Mentalität, direkt zurückzufragen. Aber sie sehen natürlich an mir, daß es eine andere Welt gibt, in der es offenbar wichtig ist, Fragebögen auszufüllen und in der man offensichtlich einfach haufenweise Papier beschreibt, um es hinterher wegzuschmeißen. Manche haben mich dann schon mal gefragt: "Ja was machst Du denn jetzt mit diesen ganzen Fragebögen?" Und ich habe gesagt: "Nun ja, ich trage das alles zusammen und gebe dann die Informationen an die NGO weiter, damit die weiß, was ihr denkt." Daß ein solcher Abstraktionsprozeß nötig ist, konnten sie sich zunächst gar nicht vorstellen. Aber dann meinten einige doch: "Ja, das ist gut so, wir trauen uns manchmal auch nicht, denen direkt zu sagen, was wir denken." Und lernen auf diese Weise, daß es zwischen "direkt sagen" und "nicht sagen" noch eine andere, anonymisierte Möglichkeit gibt. Das bringt ganz neue Konzepte in ihr Leben. Ich weiß zwar nicht, wie viele von meinen Interviewpartnern das verstanden haben, aber irgend einen Einfluß hat es schon auf sie, und wenn es nur allein das Wissen ist, daß es Menschen gibt, die daran interessiert sind, was sie machen.

SB: Herzlichen Dank für das Gespräch.

Prozession mit traditionellen Ponchos in Pisac - Foto: 2012 by IRGlover via Flickr (CC BY-NC-2.0)

Der Globale Wandel und seine Institutionen (NGOs) sind nicht nur Hilfe, sondern verändern die indigene Bevölkerung und ihre Kultur.
Foto: 2012 by IRGlover via Flickr (CC BY-NC-2.0)

Anmerkungen:
[1] Nature, Vol.403, 853-858 (Februar 2000) - "Biodiversity hotspots for conservation priorities"

[2] Mit Resilienz (von lateinisch: resilire 'zurückspringen' 'abprallen'), das sich im Deutschen mit Widerstandsfähigkeit oder Pufferfähigkeit übersetzten läßt, wird die Toleranz eines Systems gegenüber Störungen oder Fehlern beschrieben. Systeme sollen von innen oder außen kommende Störungen ihres Zustandes ausgleichen oder unter Aufrechterhaltung ihrer Systemintegrität "ertragen". Mit dieser Herangehensweise wird allerdings ein ungestörter Ausgangszustand und damit im Grunde die Geschlossenheit eines Systems unhinterfragt vorausgesetzt, von dem jede weitere Dynamik abgeleitet wird. Auf ländliche Räume oder Ökosysteme läßt sich diese Ungestörtheit genau genommen gar nicht übertragen, sie sind an einer Stelle immer offen. Resilienz ist jedoch ein sehr populäres Konzept, das nicht nur in der Katastrophenforschung, sondern auch in vielen anderen Arbeitsbereichen angewendet wird. So wird der Begriff bei allen denkbaren Gefährdungen herangezogen, die in den Bereichen Technik, Ökonomie sowie Soziales vorkommen und so verwendet, als ließe sich damit ein analytisches Instrumentarium für Themen schaffen, die Unsicherheit in Bezug auf Zukunftserwartungen signalisieren:

- Strategien zur Eingrenzung und Bewältigung des Klimawandels

- die Anfälligkeit sogenannter kritischer Infrastruktursysteme gegenüber Havarien, Naturereignisse oder gewaltsamer Anschläge (Küstenschutz)

- Nebenwirkungen von menschlichen Eingriffen in komplexe Systeme (von Finanzmärkten über ökologische Systeme bis hin zu Kulturlandschaften)

Darüber hinaus soll Resilienz nicht nur die Kapazität einer Absorbierung von Störungen beschreiben, sondern vor allem die Fähigkeit zur Erhaltung der Identität des Systems. Ein Beispiel für Resilienz in den Anden ist für Dorothea Hamilton die große Agrobiodiversität. Da die Ökosysteme eng miteinander verzahnt sind, gibt es beispielsweise als Vorbeugung gegen mögliche Störungen z.B. durch klimatische oder Wettereinflüsse auf allen Höhenlagen verteilt etwa 1.300 verschiedene Kartoffelsorten. Das garantiert einen Erntevorrat für schlechtere Zeiten und wird von den Einheimischen als "gutes Leben" bzw. "gutes Essen" verstanden.

[3] Am 30. August 2012 hielt Dorothea Hamilton (Philipps Universität Marburg) ein Referat mit dem Titel "The role of vertical exchange for socio-ecological resilience in the Andes, the example of climate change" auf dem Weltkongreß der Geographie IGC 2012 in Köln.

[4] Quechua sprechende indigene Dorfgemeinschaften im Andenraum Südamerikas. Quechua (auch Ketschua), ist eine Gruppe eng miteinander verwandter indigener Sprachvarietäten, die nur hier gesprochen werden (abgesehen von Ecuador, wo Quichua (bzw. Kichwa) gesprochen wird).

[5] Asamblea (= Versammlung): In den peruanischen Anden-Comunidads sind es regelmäßig stattfindende Treffen aller Mitglieder einer Gemeinschaft (Comuneros), in denen "basisdemokratisch" über Belange der Gemeinschaft aber auch persönliche Probleme gesprochen und abgestimmt wird (eine aus der Bevölkerung hervorgegangene Initiative oder "grass-roots organization"). Diese Einrichtung habe laut Dorothea Hamilton eine hohe Relevanz für die kulturelle Identität der Gemeinschaft.

[6] Ayllu-System - Ayllu bedeutet in Quechua sowohl Großfamilie (Sippe) als auch Verwandtschaftsgemeinschaft, im erweiterten Sinne jedoch auch die genossenschaftlich organisierte Dorfgemeinde oder -gemeinschaft und ist somit die unterste politische Einheit in der traditionellen Gesellschaft der Anden. Der Ayllu zeichnet sich durch gemeinschaftlichen Besitz an Grund und Boden aus. Die Felder bzw. Weideflächen werden entweder gemeinsam bewirtschaftet oder jedes Jahr als "Leihgabe" zur individuellen Bewirtschaftung neu verteilt. Traditionell beten die Mitglieder eines Ayllu neben den allgemeinen Gottheiten der Anden ihre eigene lokale Gottheit (wak'a) an.

Nach der Conquista wurde durch die Einführung der Encomienda und später der Hazienda [9], welche de facto eine Form der Leibeigenschaft war, die Organisation der Ayllus zerschlagen. Nach der Bodenreform 1969 durch den Präsidenten Juan Velasco Alvarado sollten die Ayllus unter dem Namen Comunidad Campesina wiederbelebt werden und bekamen wieder Autonomie. In dem abgelegenen Forschungsgebiet von Dorothea Hamilton hat sich die Organisation des Ayllu bei den Quechua-Gemeinden bis heute gehalten und wird teilweise sogar gefördert.

[7] Cristianos - deutsch: Christen, hier vor allem neue, evangelikale Glaubensgemeinschaften.

[8] Cumoneros - hier: Mitglieder einer Comunidad, der andinen Dorfgemeinschaft.

[9] Hazienda - deutsche Schreibweise für spanisch hacienda, ein Landgut in Lateinamerika. Mit der Encomienda unterwarf 1503 die spanische Krone, die das eroberte Land als ihr Eigentum betrachtete, die Angehörigen der Indiovölker der Tributpflicht.

[10] Aini, Ayni oder Ayniy (aus dem Quechua) ist eine im Kulturraum der Anden und im angrenzenden östlichen Tiefland verbreitete, aus präkolumbischer Zeit tradierte Form der Arbeit in gegenseitiger Hilfe. Mitglieder der Dorfgemeinschaft (Ayllu) helfen einer Familie bei privaten Vorhaben, z.B. dem Hausbau oder Feldarbeiten. Dabei kann jede Familie einmal in den Genuß dieser Hilfe kommen, und Mitglieder jeder Familie helfen anderen Familien. Während der Arbeit werden die Helfenden mit Essen und Trinken versorgt. Noch heute ist das Ayni bei den Quechua und Aymara in Bolivien, Peru und Ecuador verbreitet.

[11] Um eine längere Haltbarkeit der Kartoffeln und damit Vorräte für Jahre schlechter Ernten zu erzielen, entzogen die Inkas der Kartoffel durch Ausnutzung von Nachtfrösten und Tauphasen die Feuchtigkeit. Sie schufen so ein Produkt, das sie Chunio nannten und das jahrelang haltbar war. Vermutlich ist "chunio" das erste Kartoffelverarbeitungsprodukt überhaupt.

[12] "Endogenous developement" - auf deutsch: endogenes Entwicklungspotential bezeichnet die Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb einer Region im Gegensatz zu den von außen herangeführten Entwicklungsressourcen. Die Region wird somit als Entscheidungs- und Handlungseinheit gegenüber einer mehr zentral orientierten Raumordnungspolitik aufgewertet. Der Begriff wurde maßgeblich von Stefan Rist mitgeprägt, der eigentlich auch als Referent in diesem Panel des IGC 2012 sprechen sollte.

Siehe hierzu auch die Arbeit von Sarah-Lan Mathez-Stiefel, Sébastien Boillat und Stefan Rist, "Promoting the diversity of worldviews: An ontological approach to bio-cultural diversity":
http://www.bioculturaldiversity.net/Downloads/Papers%20participants/Mathez_et_al.pdf

[13] Josef Estermann: Die Menschen, die sich in diesem geographischen, sozialen und kulturellen Raum verwurzelt fühlen, entwickeln einen enormen philosophischen Reichtum, dem Dr. Josef Estermann, Direktor des missionswissenschaftlichen Instituts Missio e.V. in Aachen seine Publikation: "Andine Philosophie. Eine interkulturelle Studie zur autochthonen andinen Weisheit" nachgeht. Er verfaßte diese Publikation nach acht Jahren intensiven Zusammenlebens mit den andinen Runa. Estermann versucht darin auf Begriffe wie andine Rationalität, andine Logik, andine Kosmologie, andine Anthropologie, andine Ethik sowie andine Theologie einzugehen.

Weitere Berichte und Interviews zum Weltkongreß der Geographie 2012 in Köln finden Sie, jeweils versehen mit dem kategorischen Titel "Down to Earth", unter

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26. Dezember 2012