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INTERVIEW/108: Wohnstube Meer - Forschung tut not ... Meeresbiologin Antje Boetius im Gespräch (SB)


"Ein anderes Meer ist möglich!"

Zur Konferenz "über die Grenzen des Blauen Wachstums und die Zukunft der Meere" eines breiten zivilgesellschaftlichen Bündnisses vom 15. - 17. Mai 2014 im Konsul-Hackfeld-Haus in Bremen

Prof. Dr. Antje Boetius über die Spuren der Zivilisation auf dem Meeresgrund und mikroskopische Anpassungskünstler


Tauchboot Alvin mit den Tauchern Bruce Strickrott und Sean McPeak. Im Hintergrund die R/V Atlantis. - Foto: 2004 by Gulf of Alaska Seamount Expedition. NOAA Office of Ocean Exploration

Die Tiefsee ist nur mit einem enormen Geräteaufwand erreichbar.
Tiefseeforscher im Pazifik machen ihr "Raumschiff" klar.
Foto: 2004 by Gulf of Alaska Seamount Expedition. NOAA Office of Ocean Exploration

2012 verabschiedete die Europäische Kommission die Strategie des "Blauen Wachstums". [1] Wie einst das Land soll die See kultiviert und ihre entdeckten bzw. noch unentdeckten Ressourcen in Form von mineralischen Bodenschätzen (Kobaltkrusten, Manganknollen), Energie (Offshoreanlagen für Öl-, Gas- und Windenergiegewinnung) und Fischbeständen bis zu den genetischen Codes der Makro-, Meio-, Meso- und Mikrofauna erschlossen und genutzt werden. Dabei wird laut der Leitinitiative der EU in den nächsten zehn Jahren ein weltweiter Umsatz allein des Meeresmineralbergbaus von beinahe Null auf fünf Milliarden Euro und ein weiterer Anstieg auf zehn Milliarden bis 2030 erwartet.

Während Staaten und Industrievertreter ihre Claims auf hoher See abstecken und ihre Interessen der Öffentlichkeit als ökonomische Chance verkaufen, die diese als möglichen Ersatz für die an Land zur Neige gehenden Reserven und als neugeschaffene Arbeitsplätze willkommen heißen soll, ist die Rolle der Wissenschaft durchaus umstritten. Die Forscher treibt die verständliche, menscheneigene Neugier in das fremde, unwirtliche Element, das noch zum großen Teil Terra incognita ist. Allein die Tiefsee ist weniger erforscht als die Rückseite des Mondes, dabei liegt mehr als die Hälfte der Erdoberfläche (53,6 Prozent) unter einer gewaltigen Wassersäule von 3.000 bis 6.000 Metern (1 Prozent davon sogar über 6.000 Meter), für den Menschen nur mit schwerstem Gerät und einem logistischen Aufwand erreichbar, der durchaus mit einem Vorstoß ins Weltall verglichen werden kann.

Antarktischer Eisfisch oder Weißblutfisch. Als Anpassung an niedrige Temperaturen enthält er keine roten Blutkörperchen. - Foto: © A Julian Gutt / Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung

'Grundlagenforschung ist einfach nur Landschaftsbeschreibung mit Tieren drauf. [...] Die Beurteilung einer industriellen Verwertbarkeit machen andere.'
Foto: © A Julian Gutt / Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung

Stillen können Wissenschaftler ihre Neugier aber nur, wenn potentes Interesse an ihrer Expertise besteht, das heißt, wenn sich Staat oder Industrie mehr als einen Zugewinn an Prestige von ihren Ergebnissen versprechen. Das veranlaßte einen der führenden Meeresgeologen am Geomar, Prof. Colin W. Devey, auf einer Tagung über mineralische Ressourcen zu dem Appell an die marine Bergbauindustrie: "Mine it, please!!" Denn dann würden endlich auch alle notwendigen Mittel zur weiteren Erforschung der Meeresumwelt und ihrer Bodenschätze (und den Folgen ihrer zwangsläufigen Zerstörung im Prozeß) zur Verfügung stehen. [2]

Entsprechende Mittel haben die Interessenvertreter nicht zur Hand, die vor der Kehrseite des "innovationsbeschleunigten Blauen Wachstums" warnen, das auf dem diesjährigen Europäischen Tag der Meere (EMD - European Maritime Day) in Bremen als "Innovation driving Blue Growth" empfohlen wurde. Die demzufolge randständige Forschung an den Risiken und Nebenwirkungen für Umwelt- und Meeresumfeldveränderungen greift meist nicht weit genug oder wird erst hinzugerufen, wenn es bereits zu spät ist.

Grund genug, die Frage der wissenschaftlichen Beteiligung an der Problematik der Meeresnutzung bereits zu Beginn des von einem Bündnis aus 20 NGOs organisierten "Gegengipfels" zum offiziellen EU-Ereignis zu stellen. [3]

Dokumentaufnahme - Millionen von toten Fischen säumten 1976 die Küste vor Baltimore, Maryland - Foto: 1970 James Howard Pickerell US-EPA (Public Domain), via Wikimedia Commons

Risiken und Nebenwirkungen des Meeres der Zukunft?
Foto: 1970 James Howard Pickerell US-EPA (Public Domain), via Wikimedia Commons

Vielleicht hatten die Veranstalter daher nicht ganz unabsichtlich zu der öffentlichen Podiumsdiskussion über das Thema "Grenzen des Blauen Wachstums" neben Cornelia Wilß als Moderatorin, Francisco Mari (Brot für die Welt), Meeresbiologe Thilo Maack (Greenpeace) und Nicole Franz (FAO - Food and Agriculture Organization) auch die derzeit wohl bekannteste deutsche Tiefseeforscherin und Meeresbiologin, Antje Boetius, eingeladen. Die medial gefragte Professorin der Bremer Universität - am Tag der Veranstaltung hatte sie bereits fünf Interviews gegeben - setzte sich als einzige der Diskussionsrunde, die nicht einer der am Bündnis beteiligten NGOs angehörte, offensiv für die Europäische Meeresforschung ein, der ihrer Meinung nach auch für soziale Fragen wie der Beschaffung neuer Arbeitsplätze eine wichtige, gesellschaftliche Verantwortung innerhalb des Blauen Wachstums- Konzepts der EU zukommt. Der Frage nach einer möglichen Beteiligung wich sie allerdings aus. Man könne die Grundlagenforschung, die einfach einen Zustand beschreibt, nicht mit Nutzung gleichsetzen und ihr auch nicht unterstellen, sie sei der Wegbereiter für die kommerzielle Ausbeutung. Demokratie bedeute, daß man hinsehen und darüber reden könne. Es ginge nicht, daß der Erkenntniszuwachs einfach abgestellt würde, weil es möglicherweise eine Gefahr des Mißbrauchs gäbe. Damit kehre man ins Mittelalter zurück, als Galileo Galilei von der Kirche und den politisch Mächtigen seiner Zeit der Mund verboten wurde, weil er behauptet hatte, die Erde sei rund.

Grundlagenforschung, wie sie auf der Agenda des Blue Growth gefördert werden soll, sei einfach nur eine Landschaftsbeschreibung mit Tieren darauf. Die Beurteilung der industriellen Verwertbarkeit machten andere.

Vor der Podiumsdiskussion ergriff der Schattenblick die Gelegenheit, der Meeresbiologin einige Fragen über ihre Arbeit zu stellen.

Während der Podiumsdiskussion - Foto: © 2014 by Schattenblick

Mikroorganismen in der Tiefsee spiegeln den globalen Wandel wider.
Prof. Antje Boetius
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Sie tauchen seit Jahren - und wenn wir richtig informiert sind, mit Leidenschaft - in die arktische Tiefsee. Sie gehen nicht nur in Regionen, die noch nie zuvor ein Mensch erblickt hat, sondern auch dahin, wo es dunkel und kalt und für die meisten Menschen zu unattraktiv ist. Warum?

Prof. Dr. Antje Boetius (AB): Genau diese Bereiche der Erde, die eben noch völlig unentdeckt sind, haben mich immer fasziniert. Schon als Kind habe ich gedacht, daß dies der beste Beruf auf der Welt sein muß, weil man dahin darf, wo sonst keiner hinkommt. Das war nicht so, daß ich ein besonders mutiges Kind war, aber wenn ich Geschichten über Abenteurer und Entdecker gelesen habe, stellte ich mir das ganz toll vor, immer wieder Neues zu sehen. In meinem Studium hat sich durch verschiedene Zufälle ergeben, daß ich vor allen Dingen mit Tiefseeforschung zu tun hatte und in diesem Bereich ist es nicht so schwer, Neues zu finden, weil wir von der Tiefsee noch weniger als ein Prozent gesehen haben. So hat sich gewissermaßen eine Art berufliche Leidenschaft dafür entwickelt, neben der - in Anführungszeichen - "normalen" Forschung immer wieder die Grenzen zu verschieben, uns anzustrengen und unter Schwierigkeiten und Auflagen wirklich zu entdecken. Das ist ja nicht so einfach, denn das wird einem nicht unbedingt bezahlt. Wenn es jetzt nicht direkt etwas mit der Gesellschaft zu tun hat, sondern der Antriebsgrund wirklich nur Neugierde auf die Vielfalt des Lebens ist, dann muß man heutzutage ordentlich kämpfen, um so etwas noch zu machen.

SB: Können Sie durch Ihre Reisen in die arktischen Regionen aus eigener Anschauung bereits Veränderungen unter dem Einfluß des Klimawandels feststellen?

AB: Auf jeden Fall. Eine meiner beeindruckendsten Expeditionen war im Sommer 2012. Kurz nachdem wir im August losgefahren sind, hatte sich ergeben, daß dies der Rekordsommer werden würde mit dem größten sommerlichen Meereisrückgang aller Zeiten, seit der Mensch die Eisoberfläche in der Arktis beobachten kann. Unser Arbeitsprogramm war voll gepackt, wir hatten 55 Wissenschaftler an Bord, aber dann erhielten wir ständig Anrufe und E-Mails: "Ihr müßt Euch das ansehen, das hat es noch nie gegeben" oder Fragen: "Wie sieht das aus? Was hat sich verändert?" Alle, die Familien zuhause, aber auch die Medien, waren daran interessiert. Die BILD-Zeitung schrieb: "Der Nordpol schmilzt!"

Wir hatten die Aufgabe, in bestimmten Regionen auch Forschung am Meeresboden zu machen und an der Wassersäule, aber wir mußten unsere Fahrtroute völlig verschieben, weil einfach da, wo wir hin wollten, überhaupt kein Eis mehr war. Dann sind wir tiefer in die Arktis reingefahren und konnten feststellen und bestätigen, was eigentlich auch völlig logisch war, daß natürlich alles Leben im Eis - denn das ist ja auch ein Lebensraum - ins Wasser fällt und auf den Meeresboden sinkt, wenn das Eis schmilzt. Und manches davon kann nicht schwimmen und gehört da einfach auch nicht hin. Daß eine dünnere Meereisschicht in der Arktis starke Veränderungen des Lebens im Meer mit sich bringen wird, war eine ganz wichtige Veröffentlichung.

Forscher knüpfen sich den Lebensraum Meereis vor: Wasserproben aus den Schmelztümpeln, das Eis selber sowie das Wasser darunter wird nach Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen durchsucht. - Foto:© 2012 Mar Fernandez, Alfred-Wegener-Institut

Die Arktis der Zukunft wird aus dünnerem Meereis bestehen, das daher seltener den Sommer überlebt, schneller driftet und mehr Licht in den Ozean eindringen läßt. Doch wo überleben die Eisbewohner?
Foto:© 2012 Mar Fernandez, Alfred-Wegener-Institut

SB: Sie haben Ihre Forschungsaufgabe den Gegebenheiten angepaßt. Wie sah das aus?

AB: Auf diese Weise konnten wir die ersten Bilder von diesen Veränderungen machen. Wie sieht das aus? Also, der Meeresboden war grün von Algenschleim. All das, was normalerweise unterm Eis hängt, landet beim Abschmelzen auf dem Meeresgrund. Wir haben uns angestrengt herauszufinden, ob das etwas Neues ist, das wirklich mit dem Klimawandel-Phänomen zusammenhängt oder ob das vielleicht schon immer so war. Das ist schwer, wenn es darüber noch keine Daten gibt. Aber für die vielen Studenten, die dabei waren, war es natürlich auch eine spannende Erfahrung und ein irres Erlebnis, zu diesem Zeitpunkt dort im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein, und selbst gefragt zu werden: "Was seht ihr, was entdeckt ihr, könnt ihr das messen, was sich verändert hat?"

Tatsächlich rausgefunden haben wir, daß es eindeutige Zusammenhänge von oben nach unten in der Wassersäule gibt. Das heißt, wenn sich oben was ändert, ändert sich auch etwas in der Tiefsee. Das können wir wirklich auch wissenschaftlich belegen.

SB: 2011 bekamen Sie für das Projekt ABYSS [4] vom europäischen Forschungsrat Fördergelder in Höhe von 3,4 Millionen Euro. Worum geht es bei diesem Projekt?

AB: Es geht dabei um das kleinste, das unsichtbare Leben, das in der Tiefsee besonders wichtig ist, weil es dort nicht viel zu fressen gibt. Wenn eine Nahrungslimitierung vorkommt, ist es oft so, daß die kleineren Lebewesen gegenüber den größeren gewinnen. Mein Vorschlag für dieses Forschungsprojekt war, herauszufinden, was eigentlich die häufigsten Tiefseebakterien auf der Welt sind.

Die Frage ist deshalb für mich so spannend, weil wir dies von vielen Bakterien wissen, zum Beispiel von unseren Darmbakterien, auch von den Pflanzenbakterien wissen wir es oder von den Bakterien an der Meeresoberfläche. Aber keiner kann heute sagen, was ist eigentlich das häufigste Meeresbodenbakterium. Und dafür ist dieses Projekt eingerichtet worden. Das sind sogenannte Hochrisikoprojekte, wo man sozusagen dafür Geld bekommt, daß man etwas tut, an das normalerweise noch kein Mensch gedacht hat.

Und um dieses Thema hat sich wirklich noch keiner gekümmert. Dafür benutzen wir aber auch schon vorhandene arktische Forschungsstationen. Wir wollen feststellen, was sind eigentlich die am besten angepaßten Tiefseebakterien, die es gibt. Und wo kommen die sonst noch vor? Gibt es die überall auf der Welt oder nur in bestimmten Regionen? Und auf welchen Skalen verändern sie sich? Wir sind jetzt im zweiten Forschungsjahr und kriegen so langsam ein Muster raus, das wir eingrenzen können. Das ist unheimlich spannend.

SB: Warum sind die Bakterien in der Tiefsee für den Europäischen Forschungsrat von so großem Interesse?

AB: Den interessiert nur, daß ich aus dem Geld Spitzenforschung mache. Also, der EU-Forschungsrat ist da ganz offen, die machen uns keine Themenvorgabe im Gegensatz zu den ganzen anderen EU-Vorhaben. Er behauptet von sich, sicherstellen zu wollen, daß Europas beste Forscher Geld haben, um Hochrisikoforschung zu machen, um in der Grundlagenforschung große Schritte zu machen, die uns voran bringen. Dafür muß man nicht unbedingt angewandte Forschung betreiben, man kann auch was völlig Wildes machen.

Eigentlich interessiert es ja überhaupt keinen Menschen, wie das häufigste Tiefseebakterium der Erde heißt, aber für uns Forscher sind solche Fragen äußerst spannend. Was gibt es überhaupt und warum sind manche Lebewesen, die überall auf der Erde vorkommen, weil sie überall leben können, die großen Gewinner? Welche evolutionären Tricks befähigt sie dazu? Das ist Grundlagenforschung, die unser Verständnis vom Leben und seiner Veränderung durch Anpassung erweitert. Es hat aber keine direkten Auswirkungen für die Gesellschaft. Und Gott sei Dank unterstützt der Forschungsrat so etwas auch.

SB: Kann der Mensch denn etwas von Bakterien lernen?

AB: Auf jeden Fall. Das betrifft die angewandte Forschung ebenso wie ganz einfache Fragen. Zu den angewandten Fragen gehören zum Beispiel: Wie können wir mit den freundlichen Bakterien besser zusammenarbeiten und die gefährlichen Krankheitserreger von uns weghalten? Im Meer setzen sehr viele Tiere auf Kooperation, auf eine freundliche Zusammenarbeit. Die haben teilweise Wege gefunden, sich aus der Vielfalt an Bakterien genau die besten für sich selbst auszusuchen und die anderen alle wegzuhalten. Wenn wir so etwas auch könnten in der Medizin, dann hätten wir nicht mehr diese gräßlichen Probleme mit bakteriellen Infektionen. Dann hätten wir auch eine Lösung für die Resistenzentwicklung bei Antibiotika. Denn wir bräuchten keine mehr.

SB: Das ist momentan ein großes Thema in der Pharmaforschung. Hier arbeitet die Grundlagenforschung der angewandten Forschung zu.

AB: Ein Riesenthema. Wir arbeiten im Grunde falsch, wenn wir immer nur versuchen, neue Stoffe zu finden, die das Wachstum von Bakterien aufhalten. Die Bakterien lernen immens schnell und bauen ihre Zellwände oder ihre Proteine einfach ein bißchen anders und schon wirken die Antibiotika nicht mehr.

Wenn wir aber die Tricks der Tiefseelebewesen kennen, wie man selektieren kann, wer oder was in die Zelle rein darf oder nicht, dann könnten wir vielleicht eine ganz andere Medizin entwickeln. Das sind große Herausforderungen.

Ich arbeite aber auch viel über Bakterien in Tiefseeböden, die es schaffen, das Erdgas Methan im Boden zu halten und nicht in die Atmosphäre zu lassen. Auch die haben Tricks drauf, die wir noch nicht verstehen. Wie machen die das? Das können die ohne Sauerstoff. Wir Menschen können nicht einmal eine Flamme mit Erdgas befeuern ohne Sauerstoff zu verbrauchen. Wie nutzen wir die Energie, ohne Sauerstoff zu verbrauchen? Das sind doch grundlegende Fragen. Darüber hinaus bestehen die unbeantworteten, großen philosophischen Fragen: Warum gibt es diese enorme Vielfalt? Können Bakterien, wenn sie einmal entstanden sind, überhaupt wieder von der Erde verschwinden, oder haben wir eigentlich eine Sammlung von Bakterien im Untergrund, die noch jenen ähneln, die bereits zu Beginn des Lebens auf der Erde waren und vielleicht das erste Leben auf der Erde darstellen? Um all das geht es.

SB: Warum gibt es trotz der extrem lebensfeindlichen Bedingungen auf dem Meeresboden noch biologische Vielfalt? Wenn es dort eine Lücke gibt zu überleben, dann würde ich höchstens mit wenigen Arten rechnen, die sich an diese Nische anpassen. Mehr aber auch nicht.

AB: Das ist ja genau das Verrückte. Wenn Leben in einem kalten, dunklen Raum stattfindet, in dem es ganz wenig zu fressen gibt, warum sollte es dann mehr als eine Sorte von allem geben? Aber das Gegenteil ist der Fall. Die Vielfalt in der Tiefsee ist eigentlich höher als an Land. Womit das zusammenhängt, warum es diese Vielfalt in einem beispiellosen Ausmaß für die Erde gibt, wissen wir einfach noch nicht. Die einzige Antwort, die wir haben, ist Zeit. Die Erde ist jetzt 4,5 Milliarden Jahre alt. Das Leben von Wirbellosen gibt es schon seit mindestens einer Milliarden Jahre. Bakterien sind schon vier Milliarden Jahre da, die hatten einfach unglaublich viel Zeit. Die Spezies Mensch ist noch nicht mal eine Million Jahre alt. Das wäre eine Erklärung für die große Vielfalt. Aber es muß noch mehr Erklärungen geben. Die Fragen nach den Nischen und ihren besonderen Anpassungsanforderungen, ob eine Art die Stoffwechselprodukte der anderen frißt und umgekehrt, gehören ebenso dazu wie der Grund, daß wir als Menschen genauer definieren wollen, was uns Vielfalt eigentlich bedeutet.

SB: Wenn man so wenig über das Leben und die Mikroorganismen am Meeresboden weiß und die Größe der Vielfalt schwer vorhersagbar ist, wie lückenlos muß dann die Erfassung sein, um überhaupt Aussagen über Veränderungen treffen zu können? Und wie läßt sich das erreichen?

AB: Man kann nicht alles erforschen. Wenn wir immer erst alles zählen und beschreiben müssen, bevor wir sagen, es hat sich was verändert, dann würden wir der Gesellschaft keinen Dienst tun, weil wir als Wissenschaftler viel zu langsam wären. Unsere Lösung sind Bioindikatoren. Wir diskutieren darüber, wie man Indikatoren finden kann, die Veränderungen anzeigen. Das sind zum Beispiel besonders sensitive oder besonders wichtige Arten, die man nicht verlieren will. Oder wir suchen nach bestimmten Stoffen des mikrobiellen Lebens oder nach Produkten seiner Aktivität, die uns verraten, was geschehen ist. Und mit diesen Konzepten kann man eigentlich ganz gut reagieren und beweisen, daß sich etwas ändert oder nicht. Bakterien sind beispielsweise tolle Leitorganismen, die reagieren viel schneller als Tiere. Zum Beispiel konnten wir zwischen 2004 und 2007, als es diese irrsinnig warme Phase gab, in der sich der Atlantik stark aufgewärmt hat, ebenso schnell, wie die Leute Temperaturen an der Oberfläche maßen, auch die Veränderung der Bakterien in der Tiefsee zeigen. Nun könnte man vielleicht fragen: Wieso in der Tiefsee, dort verändert sich die Temperatur doch nicht? Aber dadurch, daß all das, was runterfällt, also das veränderte, absterbende Plankton, das von oben kommt, eine andere Nahrung darstellt, konnten wir tatsächlich in der Tiefsee die starken Veränderungen an der Oberfläche nachvollziehen.

Wir haben dann in unseren Sinkstofffallen nachweisen können, daß die großen, kaltangepaßten Eisalgen durch wärmere, atlantische Arten ersetzt worden sind. Auf die andere Nahrungszusammensetzung haben die Bakterien sofort reagiert. Ein Ergebnis von meinem ERC-Projekt [5] ist, daß wir jetzt nach diesen Indikatorbakterien suchen, an denen wir erkennen können, in welchen Phasen es oben wärmer war.

SB: Wenn diese Eisalgen abschmelzen, geht dann eine Nahrungsquelle für die Tiere unter dem Eis verloren?

AB: Ganz genau.

SB: Vermehren sich dann die Tiere in der Tiefsee stärker durch das zusätzliche Nahrungsangebot oder können sie die fremde Nahrung gar nicht verwerten?

AB: Genau. Wir haben das untersucht und überhaupt nur zwei Arten gefunden, die von dieser neuen Nahrung überhaupt etwas gefressen haben. Denen haben wir dann aber auch in den Darm geschaut und festgestellt, sie haben die Nahrung zwar geschluckt, aber nicht richtig verdaut. Wir konnten sogar - das hört sich jetzt verrückt an -, aber wir konnten Seegurken nehmen und aus denen Algen entnehmen und die sind im Labor wieder gewachsen. Also, die sind nicht verdaut, sondern völlig intakt geblieben.

Das war eigentlich auch unser Beweis dafür, daß das alles mit dem Klimawandel zu tun hat. Denn als wir unser Paper veröffentlichen wollten, gab es Gutachter, die mit uns gestritten haben und das Argument brachten, das habe doch nicht unbedingt etwas mit dem Klimawandel zu tun, das sei ja vielleicht immer schon so gewesen, es hätte nur noch nie einer untersucht. Da konnten wir argumentieren, daß man dann auch entsprechende Tiere hätte finden müssen, die sich über die Zeit an diese Nahrung gewöhnt oder angepaßt hätten. Aber die gibt es nicht.

Man hat auch keine Würmer gesehen, die eigentlich immer da sind, wenn ein Überschuß an Nahrung da ist. Und schließlich konnten wir auch noch Messungen zur Sauerstoffzehrung vorweisen und auch da zeigen, daß an den Stellen, wo die Algen hingefallen sind, der Sauerstoff verschwunden war, darunter war aber noch Sauerstoff im Sediment vorhanden. Das heißt die Bakterien konnten die Algen verdauen. Aber der Sauerstoff darunter, ist ein Hinweis darauf, daß dieser Vorgang neu war. Wenn jedes Jahr so viel Futter an dieser Stelle runter fällt, dann hätte dort der Sauerstoff in allen Schichten komplett gefehlt.

SB: Wie stellen Sie das fest. Überprüfen Sie generell den Sauerstoffgehalt, um zu sehen, ob noch genug Sauerstoff für die Tiere vorhanden ist?

AB: Nein, um zu sehen, ob sie genug zu fressen haben. Also ich könnte jetzt Ihren Sauerstoff im Atem messen und Ihnen genau sagen, wieviel Brot und Essen Sie zu sich genommen haben. Jedes Stückchen Kohlenstoff, das wir verbrennen, kommt als CO2 wieder heraus.

Genau das machen wir auch mit den Tiefseetieren. Wir stülpen so eine Hülle drüber, eine Art umgedrehter Eimer, und messen dann die Veränderung des Sauerstoffgehalts. Das können wir dann direkt in die Nutzung von Kohlenstoff umrechnen und dann daraus schließen, wie viel die Tiere zu fressen hatten. Und da ja da unten keine Nahrung wächst, muß alles, was wir dann messen, von oben runtergefallen sein. Auf diese Weise können wir ganz genau sagen, wie viel da heruntergekommen ist.

Meine Arbeitsgruppe ist die erste, die so etwas unter Eis macht. Wir mußten da besondere Geräte bauen, die ohne Roboter, ohne alle fremden Hilfsmittel vom Schiff aus dahin zu setzen sind. Und nun überlegen Sie mal, wie schwierig das ist. Sie sind vier Kilometer drüber mit dem Schiff, im Eis ...

Und wir schaffen es, dann diese Geräte zum Beispiel genau zu plazieren. Das ist schon eine super Technologie. Und so konnten wir genau messen, daß die Tiere da unten zehn mal so viel zu atmen hatten, oder zu fressen hatten als sonst.

SB: Was sind das für Geräte, kann man sich das in etwa so wie minimalinvasive Chirurgie auf dem Meeresboden vorstellen?

AB: Im Gegenteil. Das sind sehr große, schwere Geräte, für die man zunächst mit dem Schiff ein Loch ins Eis brechen muß. Es muß schwer sein, damit es zum Meeresboden sinkt, aber man muß es dann auch wieder hoch kriegen. Sie brauchen also noch mehr Fläche, um Aufzugskörper draufzusetzen. Sind also wirklich große, schwere, brutale Geräte. Deswegen brauche ich auch große, kräftige Leute in meiner Mannschaft.

SB: Wenn sich Veränderungen, die über dem Wasser stattfinden, auf dem Meeresboden abzeichnen, gibt es auch den umgekehrten Weg, daß sich Veränderungen am Meeresboden auf höhere Schichten der Wassersäule auswirken oder auf die Organismen an der Meeresoberfläche?

AB: Ja. Wenn Vulkane im Meer ausbrechen, können sie neben dem großen Schaden, den sie anrichten, indem sie Tsunamis auslösen oder ähnliches, auch auf einmal sehr große Mengen an Eisen auswerfen. Dieses Eisen wirkt in manchen Meeresregionen als Düngestoff und sorgt dann auf einmal für eine viel höhere Algenproduktivität an der Oberfläche. So etwas gibt es auch.

SB: Die Eisendüngung wurde ja auch vom Alfred-Wegener-Institut bereits als Geoengineering-Methode erprobt und dann verworfen, mit der durch ein künstlich angeregtes Algenwachstum das Klimagas CO2 gebunden und mit den absterbenden Algen entfernt werden sollte. Verfolgen Sie auch solche Forschungsansätze, in denen Sie sich konkret mit der Verhinderung von Folgen beschäftigen? Sie sprachen vorhin von Mikroorganismen, die verhindern, daß Methan aus dem Meeresboden austritt. Ihr Name wurde auch schon in Verbindung mit Bakterien genannt, die angeblich Treibhausgase fressen.

AB: Das ist richtig. Allerdings betrachte ich eher die natürliche Regulation. Ich habe bereits als jüngere Forscherin diese Organismen entdeckt, die ohne Sauerstoffverbrauch Methan aus dem Untergrund beseitigen. Wenn es die nicht gäbe, hätten wir wohl eine völlig andere Erde. Vermutlich gäbe es dann nicht einmal uns Menschen. Und jetzt schaue ich mir das eben unter der Fragestellung an, was könnte passieren, wenn diese Organismen nicht mehr da sind? Unter welchen Bedingungen im Meeresboden würden sie nicht mehr existieren können, oder unter welchen Lebensbedingungen werden sie besonders effizient. Und wie reagiert die Erde auf mehr oder weniger Erdgas im Meeresboden?

Ich mache aber keine Forschung, in der ich nach einem besonderen Stoff oder einem Enzym in den Mikroorganismen suche, daß man dann extrahieren oder für irgendwelche Zwecke verkaufen kann. So etwas überlasse ich anderen, weil ich einfach viel mehr an der Frage interessiert bin, wie etwas funktioniert, als an der Frage, wieviel Geld kann ich damit machen. Das interessiert mich eigentlich gar nicht.

SB: Ihre Forschung geht also nicht in die Richtung eines Nutzens, auch nicht eines, der von seiten mancher Forscher als Nutzen im Sinne der Allgemeinheit verstanden wird, eines umweltfreundlichen Bio-Geoengineerings gewissermaßen?

AB: Finde ich sehr interessant und da gibt es durchaus wichtige Zusammenhänge zu meiner Forschung. Wenn man jetzt Eisen in der Antarktis an den Stellen einbringt, wo es zwar viele Nährstoffe gibt, aber nicht genug Eisen, und viel Plankton entsteht und in die Tiefsee fällt, stehen wir vor der Frage: Bleibt es dann wirklich auch unten oder nicht?

Solche Fragen und auch Experimente dazu finde ich unheimlich wichtig. Aber es gehört eigentlich nicht mehr direkt in meinen Forschungsbereich. Meine Forschung befaßt sich eher mit Zustandsbeschreibungen und dann damit, wie sich die Tiefseewelt durch Klima langfristig oder auch durch direkte Eingriffe des Menschen verändert, wie beim Tiefseebergbau. Diese Forschungen machen wir auch.

Planktonfang: Fischlarven (Pleuragramma antarcticum) und rote Flohkrebse (Eusirus sp.) aus einem großen Planktonnetz - Foto: © C. Havermans, IRSNB / Alfred-Wegener-Institut

Wenn mehr Plankton gezüchtet wird, um CO2 zu binden, wo bleibt es dann?
Foto: C. Havermans, IRSNB / Alfred-Wegener-Institut

SB: Die Nutzung der Bodenschätze in der Arktis und der Einfluß des Menschen auf ein noch unberührtes Ökosystem sind durchaus ein sehr umstrittenes Terrain. Ist dieser Run auf die letzten Ressourcen bereits im Polarmeer spürbar?

AB: Ja, indirekt schon. Das ist eine zweischneidige Sache. Es gibt eine große Hoffnung, daß in der Arktis ungeahnte Gas- und Ölvorkommen sind. Die richten sich aber auf den Bereich innerhalb der AWZs, also der ökonomischen Zonen der Arktis-Anrainer und fallen damit eigentlich in ein reguliertes Gebiet. Da gibt es Umweltrichtlinien, Vorschriften auch vor Rußland und so weiter.

In dem freien Raum am Nordpol gibt es unseres Wissens nach keine Bodenschätze. Das heißt also, im Grunde haben wir genug Richtlinien, um damit umzugehen. Die Probleme entstehen eigentlich durch all das, was es dort nicht gibt. Es gibt in der zentralen Arktis keine Häfen, keine Infrastruktur. Und man müßte einfach darüber nachdenken, was das für solche Explorationsaktivitäten bedeutet. Am meisten Sorgen macht mir aber, ehrlich gesagt, der Kreuzverkehr. Davon gibt es immer mehr in der Arktis.

Und es gibt dort eben gar nichts, wenn einer mal in Not geraten würde. Darüber wird aber nie geredet und ich finde, bevor dort Menschen hingehen, um zu arbeiten oder irgendwas zu machen, sollte es doch erstmal einen Flughafen, ein Krankenhaus, ein bißchen was geben, damit im Falle eines Unfalles auch jemand gerettet werden kann. Das macht mir Sorgen, wenn davon gesprochen wird, als könnte man da hin und alles abbauen. Das ist wie beim Goldrausch in Kalifornien, als die ersten Auswanderer rüber sind und dann feststellen mußten, da ist noch nicht einmal ein Dorf oder so.

SB: Meine Frage zielte eigentlich auf das Leben am Meeresboden, also Ihren Arbeitsbereich. Machen sich die Aufsuchungen dort bereits bei Ihren Forschungsarbeiten bemerkbar? Und was sagen die Meeresbewohner dazu?

AB: Da passiert nichts. Es gibt in der zentralen Arktis, die noch eisbedeckt ist, kaum Fische oder etwas anderes, was man dort abfangen könnte. Es gibt allerdings ein paar biotechnologische Anwendungen, an denen geforscht wird.

So besteht großes Interesse an den Eisalgen, die es tatsächlich schaffen, Stoffe zu produzieren, die sie dazu befähigen, nicht einzufrieren. Und diese Stoffe verwenden wir beispielsweise im Speiseeis, andere Stoffe, Enzyme, die auch in niedrigen Temperaturen funktionieren, werden für die Herstellung von Kaltwaschmitteln benutzt. Das sind Waschmittel, mit denen man, ohne daß man heißes Wasser braucht, äußerst energieeffizient waschen kann.

Diese Stoffe sind industriell sehr wichtig, weil sie Energie einsparen. Und solche Hilfsstoffe entnimmt man dann den kaltangepaßten Lebewesen. Ansonsten lohnt sich dort keine Fischerei, weil es so wenig Planktonproduktivität und daher auch kaum Fische gibt, die man fangen könnte.

Das heißt, die Gründe, warum Menschen dort überhaupt hin wollen, sind einerseits die Transport- oder Verkehrswege, die sich durch die Klimaerwärmung auftun - wenn man oben durchfahren würde, anstatt um ganz Asien herum, würde man unglaubliche Mengen an Schiffsdiesel sparen -, andererseits sind die Förderung von Öl und Gas ein Thema, vor allem Gas an den sibirischen und kanadischen Rändern, und schließlich an allerletzter Stelle vielleicht noch der Tourismus. Der wichtigste Wert sind jedoch die Verkehrswege. Und dieser Durchreiseverkehr geht schon los, aber eben völlig unbegleitet von der Risikodebatte, was zu tun ist, wenn mal ein Schiff auf einer Insel aufläuft oder doch im Eis stecken bleibt. Für die Rettung der Menschen an Bord gibt es noch kein Konzept.

Schiffstop im Eis, um Robben-Biologen, Meereis-Physiker und ihre Ausrüstung abzusetzen - Foto: © C. Oosthuizen /Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung

Das deutsche Forschungsschiff Polarstern auf Eisstation.
Forscher wissen, daß es hier keine Rettungsmöglichkeit gibt, doch was ist mit dem zunehmenden Kreuzverkehr?
Foto: © C. Oosthuizen /Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung

SB: Wie stellen sich aus Ihrer Sicht die Bemühungen, insbesondere Japans, dar, Methanhydrate im Meeresboden als Energieträger zu nutzen?

AB: Nun, Japan steht damit noch ganz am Anfang. Die mußten erst einmal lernen, wie schwer das ist, denn Gashydrat ist im Meeresboden weit verteilt und es ist gar nicht so leicht, das da rauszuholen.

Inzwischen gibt es ein Konzept, an dem die deutsche Industrie gemeinsam mit dem GEOMAR [6] forscht, mit dem man Methan schonend gewinnen will, indem man heißes CO2 in den Meeresboden einleitet und dadurch das Methan aus dem Untergrund wäscht, wobei man gleichzeitig das CO2 los wird und Methan gewinnt. Man denkt sich das als eine Art Kreislauf.

Aber das Problem, das ich hier sehe, ist eben der schlammige Meeresuntergrund. Ich weiß nicht, ob Sie sich schon mal eine Gesichtsmaske aus Tiefseeton gemacht haben. Oder wenn Sie mal getöpfert haben, dieser Ton ist auch so ähnlich wie der Tiefseeschlamm. Wir Forscher nennen diese Struktur "nicht porös". Das heißt, der ist ganz kompakt, da sind keine Poren drin. Wenn man da Wasser durchpressen will oder auch Gas, geht das gar nicht. Um also so einen Austausch zu machen, braucht man sandige, grobporige Sedimente, davon gibt es aber nur sehr wenige Stellen im Meer. Natürlich kann ich Japan auch verstehen, die haben ja an Land kein Gas oder Öl. Die sind daran interessiert, vom Energiehandel unabhängig zu werden, denn das ist ja auch ein politisches Problem. Aber ich halte den Methanhydratabbau nicht für realistisch, zumal er unglaublich teuer wird.

SB: Und wie schätzen Sie die Gefahr ein, daß es durch das Einpressen von Kohlenstoffdioxid zu größeren Erdbewegungen oder seismischen Aktivitäten kommt?

AB: Also, daß generell tatsächlich Gashydrate für Hangrutschungen verantwortlich sind, ist lange kein Horrorszenario mehr, dafür gibt es inzwischen eindeutige Beweise. Aber daß es da noch einen weiteren, direkten Zusammenhang durch die Versuche, Gashydrat als Energiequelle zu erschließen, gibt, ist meiner Meinung nach nicht das Wesentliche. Was dort vorgenommen wird, ist einfach so wahnsinnig teuer. Und wenn die Energiepreise dann entsprechend ansteigen würden, könnte das die Gesellschaft derart verändern, daß ich mir dies nicht als denkbare Lösung für das Energieproblem vorstellen kann. Bestenfalls, wenn es politisch einmal darum geht, daß man ein Jahr überdauert. Und das ist für Japan zumindest Grund, die Technologie auszuprobieren. Übrigens auch für Indien, die ebenfalls solche Versuche unternehmen.

SB: Beim Thema Bodenschätze aus dem Meeresboden, denkt man natürlich an mögliche oder schon gewesene Katastrophen. Bei der Havarie der Deepwater Horizon 2010 wurde das ausfließende Erdöl bereits unter Wasser mit dem Dispersionsmittel Corexit in feinste Tröpfchen verteilt. Was halten Sie von dieser Methode. Ist das eine denkbare Lösung auch für die Zukunft oder eine doppelte Belastung für die Umwelt?

AB: Es kommt immer darauf an, wäre die wissenschaftliche Antwort. Corexit wird ja deshalb verwendet, damit dieser dicke Teppich, der Oberflächenfilm, zerstört und das Öl in kleine Tropfen zerlegt wird, so daß es eine größere Angriffsoberfläche für Bakterien gibt, die das Öl dann zersetzen können.

Das schützt natürlich erst einmal Vögel oder Meeressäuger, weil es dann unter der Oberfläche bleibt. Außerdem simuliert es ein bißchen, daß das Öl schon weg ist. Denn wir Menschen reagieren ja auf Öl sehr emotional. Wenn wir in den Medien die Bilder von dem schwarzen Film sehen und die schwarzen Vögel, das ist dann ganz schrecklich.

Aber wenn Corexit dafür gesorgt hat, daß die Öltropfen dann unter der Meeresoberfläche hängen, dann sieht alles schon wieder ein bißchen aufgeräumter aus. Aber Corexit ist ein Lösungsmittel für Kohlenwasserstoffe und daher auch im Wesentlichen ein Kohlenwasserstoff. Sein Einsatz bedeutet eine zusätzliche Belastung und die Kombination Öl und Corexit ist auch noch besonders giftig für Fischlarven und verschiedene Meerestiere.

Bei der Katastrophe der Deepwater Horizon war sein Einsatz aber besonders umstritten, weil der Golf von Mexiko schon auf natürliche Weise einen ziemlich hohen Ölhintergrund hat und dort deshalb immer Bakterien vorhanden sind, die sehr schnell Öl abbauen können. Zudem gibt es dort höhere Temperaturen als beispielsweise bei uns und die fördern ebenfalls den bakteriellen Abbau. Was aber besonders kritisiert wurde, war, daß so ein großer Teil des Corexit direkt in die Tiefsee eingebracht wurde, nämlich an die Stelle, an der das Rohr abgerissen worden war. Angesichts dieses wahnwitzigen Verdünnungseffekts haben sich halt viele Wissenschaftler gefragt, was das dort eigentlich soll. Da verursachte man doch nur chemische Verschmutzung, denn das Zeug kann vor Ort gar nicht wirken. Man wußte ja nicht einmal, ob die Tiefseebakterien dort überhaupt in der Lage sind, das schnell abzubauen.

Also, es ist wissenschaftlich nach wie vor umstritten. Aber manche Wissenschaftler sagen weiterhin, und die haben zum Teil auch recht, Hauptsache, an der Oberfläche ist dieser Film nicht da, dann hat man schon mal viele Vögel gerettet. Es wird aber auch noch daran gearbeitet, biologisch abbaubare, weniger giftige Substanzen als Corexit zu finden. Aber viele Wissenschaftler halten den Einsatz von Dispersionsmitteln in diesen warmen Gebieten mit aktiven, erdölfressenden Bakterien für überflüssig.

SB: Schadet Corexit den Bakterien nicht?

AB: Nein, die Bakterien fressen das, wie jeden anderen Kohlenwasserstoff. Man hat sogar festgestellt, daß sie das Corexit zuerst fressen, weil es für sie leichter abbaubar ist, so daß auch manche Wissenschaftler gesagt haben, Corexit einzusetzen sei kontraproduktiv, weil es die Bakterien vom Öl ablenkt. Kohlenwasserstoffe bestehen ja erstmal nur aus Kohlenstoff, also "C", und aus Wasserstoff, also "H".

Wenn man jetzt einmal überlegt, was brauchen Bakterien überhaupt, um sich schnell zu vermehren, damit genug Bakterien da sind, um ganz schnell das Öl wegzufressen, dann fehlen ganz andere lebenswichtige Dinge für den Biomasseaufbau, nämlich Stickstoff, Phosphor und Schwefel. Und diese Stoffe sind durchaus nur limitiert vorhanden. Das heißt, mit dem Öl gibt es auf einmal ganz viel Kohlenstoff, aber alles andere nicht. Und wenn man jetzt auch noch Corexit dazugibt, da werden meistens 10 bis 20 Prozent der Menge des Erdöls dazugeschüttet, um das Öl mit Corexit aufzulösen, dann muß man unbedingt noch weitere Düngemittel dazutun, sonst passiert gar nichts. Dann hat man nur noch mehr Dreck erzeugt. Und die Notwendigkeit dieser Kombination wird gewöhnlich nicht immer ganz verstanden. Wenn man aber Glück hat und die Bakterien wachsen wirklich, dann gibt es sofort auch Algenblüten und unter Umständen sogar Giftalgen.

Allein wegen dieser aus der Balance gebrachten Natur sind die meisten Mikrobiologen gegen solche künstlichen Zuleitungen. Am schlimmsten ist vielleicht die ebenfalls diskutierte Idee, daß man auch noch Bakterien dazuschüttet. Das hieße, wirklich Geld zu verbrennen, weil die im Labor gezüchteten Mikroorganismen überhaupt nicht gut mit Salzwasser klarkommen, also nicht die sind, die dann vor Ort arbeiten können. Ich war gerade auf einem riesigen Kongreß, wo all dies besprochen wurde. Man möchte damit gerne Geld machen. Aber die Mehrheit der Mikrobiologen ist der Ansicht, das dann doch lieber der Natur zu überlassen. Doch dann kommen wieder diese schrecklichen Bilder in den Medien und die menschlichen Reaktionen darauf. Und so kippt man dann lieber Corexit rein ...

SB: Und verlagert das Problem auf andere Lebewesen...

AB: Genau. Auf die Korallenriffe, die sind im Golf von Mexiko mit so einem braunen Ölschleim belegt. Da wird ein paar hundert Jahre nichts mehr wachsen. Aber das sieht man ja nicht.

Löschschiffe besprühen die brennende Bohrinsel im Golf von Mexiko von allen Seiten - Foto: 21. April 2010 by U.S. Coast Guard (gemeinfrei), via Wikimedia commons

Katastrophen sind bei der Offshore-Erdölförderung bis heute nicht vermeidbar. Der Einsatz von Hilfsmitteln wie Corexit ist reine Kosmetik.
Für Unglücke in der Arktis gibt es überhaupt keine Lösung.
Foto: 21. April 2010 by U.S. Coast Guard (gemeinfrei), via Wikimedia commons

SB: Und was ist mit kalten Gebieten wie der Arktis? Es heißt, daß bereits an speziellen Corexitvarianten geforscht wird, die auch in diesen kritischen Zonen wirksam sein sollen?

AB: Tatsache ist, es gibt für dieses spezielle Problem keine Lösung. Wenn dort Öl und Gas abgebaut wird und es passiert eine Explosion, in deren Folge Gas oder Öl austritt, kann man das zunächst nicht einmal sehen, weil das Eis alles abdeckelt. Man kann das Öl nicht wie im Golf von Mexiko mit großen Bojen zusammen sammeln oder abschöpfen. Man kann es auch nicht anzünden. Man kann kein Corexit sprühen, weil das eben aufs Eis gelangen würde und nicht ins Wasser. Also eine Ölkatastrophe in der Arktis wäre ein riesiges Problem. Allerdings wurden in der inneren Arktis bisher noch keine großen Ölquellen entdeckt. In Alaska wurden welche gefunden, aber nicht in der inneren Arktis. Aber ohne Katastrophenbekämpfungsmittel, ohne Ölbekämpfungsschiffe, von denen es in der ganzen Arktis nicht ein einziges gibt, sollte man sich schon fragen, ob man ein solches Risiko eingehen darf?

SB: Sie haben viele wissenschaftspolitische Koordinationsaufgaben übernommen und stehen häufiger Journalisten Frage und Antwort. Nimmt das nicht zu viel Raum ein? Kommen Sie da noch selbst zum Forschen?

AB: Ja und Nein. Auf der einen Seite nimmt das natürlich viel von meiner Zeit in Anspruch. Auf der anderen Seite habe ich aber auch eine tolle Arbeitsgruppe, in der ich meine Forschungsarbeit so aufteilen kann, daß wir zusammen auf jeden Fall sehr aktiv und produktiv sind. Darüber hinaus habe ich im Laufe meines Lebens festgestellt, daß es meinen Verstand schärft, wenn ich mal nicht nur mit Forschern rede, sondern in ganz anderen Zusammenhängen mit Politikern, Geldgebern, Industrie, Öffentlichkeit oder Journalisten über unsere Forschung spreche, in dem Sinne, daß mir unerwartete Fragen gestellt werden. Oder indem mir bestimmte Antworten nicht geglaubt werden, die sich ein Wissenschaftler sofort erklären würde. Das hilft mir, um besser über die Forschung zu reflektieren und letztlich bessere Forschung zu machen. Und es hilft auch der Forschung insgesamt, die ja immer darum kämpfen muß, Geld zu bekommen, um das auch machen zu können. Das ist furchtbar schwierig, weil ich nicht nur die Mitarbeiter bezahlen muß, ich muß auch ein Schiff bekommen und Roboter, und alles muß zusammenpassen. Ich glaube, wir setzen inzwischen 2 ½ Millionen Euro an Forschungsgeldern im Jahr um, nur in meiner Arbeitsgruppe. Das ist so ähnlich, als wenn wir Marsforscher wären. Und dafür muß man auch immer bereit sein, Rede und Antwort zu stehen, finde ich.

Und diese wissenschaftspolitischen Arbeiten sind ebenfalls wichtig. Ich habe früher vernachlässigt, nachzuschauen, was denkt eigentlich die Gesellschaft überhaupt, was sie von der Wissenschaft zu erwarten hat und umgekehrt. Wie müssen wir argumentieren und auch wissenschaftspolitisch denken, um der Wissenschaft eine Rolle zu geben? Das muß nicht immer unbedingt so gut ausgehen, wie es zur Zeit der Fall ist. Sobald es Probleme mit Arbeitsplätzen gibt, wird die Wissenschaft für die Politik nur noch eine winzige Rolle spielen. Es kann, wie in anderen Ländern schon geschehen, auch in Deutschland passieren, daß auf einmal nur noch die Hälfte oder nur noch ein Fünftel vom Geld für die Forschung da wäre. Und deswegen versuche ich auch Zeit zu investieren, zu verstehen, wie das alles zusammenhängt und entschieden wird. Das hilft, finde ich.

SB: Ja, vielen Dank, Frau Boetius, daß Sie sich für uns die Zeit genommen haben.


Fußnoten:

[1] http://www.kowi.de/Portaldata/2/Resources/fp/2014-COM-innovation-blue-economy-de.pdf

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0054.html
Darüber hinaus finden Sie im Umweltpool des Schattenblick (siehe [1]) unter dem kategorischen Titel "Rohstoff maritim" zahlreiche Beiträge zu dem Workshop "Seafloor Mineral Resources: scientific, environmental, and societal issues" (Mineralische Ressourcen des Meeresbodens: wissenschaftliche, umweltbezogene und gesellschaftliche Fragen), der vom 18. bis 20. März 2013 von dem Kieler Exzellenzcluster "Ozean der Zukunft" zusammen mit dem GEOMAR - Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung ausgerichtet wurde.

[3] Drei Tage, vom 15. bis 17. Mai 2014, wurde unter dem Motto "Ein anderes Meer ist möglich!" an zwei Schauplätzen im Konsul-Hackfeld-Haus in Bremen über die Probleme des Meeresschutzes, die Rolle der Fischerei für die Ernährungssicherheit, Arbeitsbedingungen auf See, die Gefahren einer Flucht über See, die möglichen Auswirkungen des Tiefseebergbaus und aktuelle Entwicklungen des Seerechts diskutiert, Themen die in der EU-Debatte meist offen gelassen werden.
Zur Konferenz "Ein anderes Meer ist möglich!" sind bisher in den Pools
INFOPOOL → UMWELT → REPORT → BERICHT
und
INFOPOOL → UMWELT → REPORT → INTERVIEW
unter dem kategorischen Titel "Wohnstube Meer" erschienen:

BERICHT/073: Wohnstube Meer - verletzt man nicht ... (SB)

INTERVIEW/104: Wohnstube Meer - Messies, Müll und Therapien ... Kai Kaschinski im Gespräch (SB)
INTERVIEW/105: Wohnstube Meer - Pflege, Sorge, Schutz und Leben ... Thilo Maack im Gespräch (SB)
INTERVIEW/106: Wohnstube Meer - erst sterben die Fische ... David Pfender (WDC) im Gespräch (SB)
INTERVIEW/107: Wohnstube Meer - Mitgeschöpfe ... Tharaka Sriram im Gespräch (SB)

[4] 2011 erhielt Antje Boetius eine hohe Auszeichnung des Europäischen Forschungsrates mit der Finanzierung des ERC advanced grant für das Projekt "ABYSS - Assessment of bacterial life and matter cycling in deepsea surface sediments (Untersuchungen des Meeresbodens in der arktischen Tiefsee und seiner Bakterienwelt)" in Höhe von rund 3,4 Millionen Euro.

[5] Das ERC (European Research Council) will mit seinen Förderprogrammen exzellente Möglichkeiten für wissenschaftliche Spitzenforschung in allen Wissenschaftsbereichen bieten. Mit einem Projektbudget von 1,5-15 Mio. Euro und einer Laufzeit von bis zu 5 bis 6 Jahren stellen sie eine attraktive Förderung und zugleich eine Auszeichnung für Exzellenz dar. Das Projekt A BYSS, das von Antje Boetius geleitet wird, ist so ein ERC-Projekt.
http://erc.europa.eu/

[6] Das Geomar-Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel (GEOMAR) ist eine aus dem Leibniz-Institut für Meereswissenschaften (IFM-Geomar) entstandene wissenschaftliche Forschungseinrichtung. Ihre Mitarbeiter untersuchen chemische, physikalische, biologische und geologische Prozesse im Ozean sowie ihre Wechselwirkung mit dem Meeresboden und der Atmosphäre.
http://www.geomar.de/

1. Juni 2014