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INTERVIEW/210: Profit aus Zerstörungskraft - Schlußfolgerungen verfrüht ...    Dr. Alfred Körblein im Gespräch, Teil 1 (SB)


5 Jahre Leben mit Fukushima - 30 Jahre Leben mit Tschernobyl

Internationaler IPPNW-Kongreß vom 26. bis 28. Februar 2016 in der Urania, Berlin

Teil 1 des Interviews mit Dr. Alfred Körblein: Die Tsuda-Studie - vorläufig ungeklärt


Am 11. März 2011 wurde das japanische Akw Fukushima Daiichi durch ein Erdbeben und einen anschließenden Tsunami zerstört. Die Beurteilung der gesundheitlichen Folgen für die Bevölkerung aufgrund der Havarie sowie der Explosionen in mehreren Meilern des Akw in den Tagen danach fällt nicht nur Laien schwer. Auch die Experten, die sich seit vielen Jahren mit Radioaktivität und ihren Auswirkungen auf den menschlichen Organismus befassen, sind sich oftmals uneins in der Bewertung der Strahlenwirkung.

Das gilt auch und besonders für die Frage, ob der radioaktive Fallout von Jod-131 in der Präfektur Fukushima unter Kindern und Jugendlichen bereits ein vermehrtes Auftreten von Schilddrüsenkrebs ausgelöst hat oder nicht. In einer ersten Runde einer breit angelegten medizinischen Untersuchung waren die Schilddrüsen von fast 368.000 Personen per Ultraschall gescannt worden. In der zweiten, gegenwärtig noch laufenden Runde werden die positiv getesteten Personen medizinisch genauer untersucht.

Die bislang erfaßten Daten wurden von einem Team um den Epidemiologen Prof. Dr. Toshihide Tsuda von der Okayama University in Japan ausgewertet. Dabei wurde festgestellt, daß schon innerhalb von vier Jahren nach dem radioaktiven Fallout in der Präfektur Fukushima die Häufigkeit (Prävalenz) von Schilddrüsenkrebs in der Altersgruppe von bis zu 18 Jahren um das 20- bis 50fache gestiegen ist. Solche hohen Werte können nicht mit einem Screening-Effekt erklärt werden, schreiben die Autoren. [1]

Das können sie sehr wohl, halten Kritiker dagegen und haben die Studie, die am 5. Oktober 2015 im Journal "Epidemiology" erschienen ist, kritisch kommentiert. Diese Kommentare und eine abschließende Erwiderung seitens der Studienautoren sind im Netz nicht mehr verfügbar, aber nachdem Prof. Tsuda auf dem Internationalen IPPNW-Kongreß "5 Jahre Leben mit Fukushima - 30 Jahre Leben mit Tschernobyl", der vom 26. bis 28. Februar 2016 in Berlin stattfand, seine Studienergebnisse vorgestellt hatte [2], war er bereit, am Rande der Konferenz dem Schattenblick einige Fragen zu beantworten. [3]


Beim Interview - Foto: © 2016 by Schattenblick

Dr. Alfred Körblein
Foto: © 2016 by Schattenblick

Einer der Kommentatoren der Studie in "Epidemiology" ist Dr. Alfred Körblein, Physiker und Epidemiologe im Unruhestand. Diesem Physiker ist es zu verdanken, daß bekannt wurde, daß Kleinkinder unter fünf Jahren im Fünf-Kilometer-Nahbereich kerntechnischer Anlagen ein dreimal so hohes Risiko tragen, an Leukämie zu erkranken, wie im bundesdeutschen Durchschnitt. Auf dem IPPNW-Kongreß hielt der ehemalige Mitarbeiter des Umweltinstituts München e.V einen Vortrag zu "teratogenen Strahlenwirkungen" (äußeren Einwirkungen, die Fehlbildungen beim Embryo hervorrufen können) sowie zur "perinatalen Mortalität in Japan nach Fukushima". [4]

Am Rande der Konferenz erläuterte Dr. Körblein in einem längeren Interview mit dem Schattenblick seine Kritik an der "Tsuda-Studie". Eben davon handelt der folgende erste Teil des Gesprächs.


Schattenblick (SB): Herr Körblein, Sie haben die Tsuda-Studie im Journal "Epidemiology" kommentiert und geschrieben, daß mit ihr kein Zusammenhang zwischen der Prävalenz von Schilddrüsenkrebs und der Strahlungbelastung innerhalb der japanischen Präfektur Fukushima zu erkennen ist. Könnten Sie das für Laien näher erklären?

Alfred Körblein (AK): Ich übe Kritik an der verwendeten Berechnungsmethode. Herr Tsuda hat das Gebiet von Fukushima in drei Regionen unterschiedlich hoher Bestrahlung eingeteilt. Die hat er dann schwarz, grau und weiß gekennzeichnet. Dann hat er sich einen von zahlreichen Bezirken herausgesucht, der die geringste Schilddrüsenkrebsrate aufweist, und ihn mit den Krebsraten in den anderen Bezirken verglichen. Auf diese Weise kann er selbstverständlich auch mal eine Dosis-Beziehung finden. Das ist aber ein typisches "Texas-Shooter-Vorgehen": Nach Sichtung der Daten nehme ich einen bestimmten Bezirk aufs Korn, der mir paßt.

Das halte ich nicht für sinnvoll. Wir haben in den einzelnen Bezirken nur ganz kleine Fallzahlen. Weil die statistische Streuung der Schilddrüsenkrebsfälle sehr groß ist, müßte man eigentlich größere Gebiete zusammenfassen und einbeziehen.

Ich habe die Daten, die auch in der Studie verwendet werden, auf meinem Computer nachgerechnet, aber als Vergleichsgrundlage eben nicht einen kleinen Bezirk genommen, der die geringste Prävalenz von Schilddrüsenkrebsrate aufweist, sondern geprüft, ob die Prävalenz in den Gebieten mit der höchsten und der mittleren Kontamination höher ist als im Gebiet mit der niedrigsten Strahlenbelastung. Das ist nicht der Fall; innerhalb der Fehlergrenzen unterscheiden sich die Prävalenzen nicht.

Die Studie hat mich nicht überzeugt, weil es ja auch klar ist, daß die radioaktive Belastung in unmittelbarer Nähe des Reaktors viel höher sein müßte als die Belastung in einem weiter entfernten Bezirk. Also, das halte ich für keine plausible Dosis-Wirkungs-Beziehung.

SB: Das heißt, wenn es so eine Beziehung gäbe, hätte auch Ihre Rechnung eine größere Steigerung ergeben müssen?

AK: Ja, dann müßte man einen viel, viel stärkeren Effekt erwarten. Das war mein Hauptkritikpunkt an der Studie. Am Rande habe ich noch erwähnt, daß bei Tschernobyl erst im Januar 1990, also vier Jahre nach dem Reaktorunglück, eine Epidemie an Schilddrüsenkrebs einsetzte. Aufgrund dieser Datenlage würden wir für Fukushima keinen Ausbruch einer Epidemie vor 2015 erwarten. Der Zeitraum, der von der Tsuda-Studie erfaßt wird, endet jedoch vorher.

Nun erklärt jedoch Herr Tsuda, daß in dem Zeitraum der letzten 16 Jahre vor Fukushima nur 16 Fälle an Schilddrüsenkrebs unter Kindern und Jugendlichen aufgetreten waren, nach der Katastrophe aber schon 5,5 Fälle in einem einzigen Jahr. Nun, dazu ist zu sagen, daß Schilddrüsenkrebs in allen Ländern einen unglaublichen Zuwachs erfährt. Man weiß nicht sicher, worauf dieses Phänomen zurückgeht. Ich hatte eben ein langes Gespräch mit Keith Baverstock [5] geführt, der sich sehr intensiv mit diesem Thema beschäftigt und mir berichtete, daß die Schilddrüsenkrebsrate in Finnland von 1960 auf 1990 um den Faktor 10 gestiegen ist. Er führt das auf eine genauere Beobachtung im Laufe der Zeit zurück. Es gibt eben auch latenten Krebs oder "silent cancer", was man früher gar nicht beachtet hat, weil auch keine Notwendigkeit bestand, ihn zu operieren.

SB: Kann man sagen, daß die Steigerung der Schilddrüsenkrebsrate um den Faktor 5 fünf Jahre nach der Tschernobyl-Explosion auf dieses weltweit zu beobachtende Phänomen noch aufgesattelt hat?

AK: Ja, das war auf eine bessere Diagnostik zurückzuführen. Ich bin Epidemiologe und kein Mediziner, aber Baverstock kommt mehr von der medizinischen Seite und ist in dem Fall mein "Kronzeuge". Prof. Tsuda hat in seiner Studie nur die Daten bis Dezember 2014 beobachtet [6] und liegt damit immer noch in der Zeit, die man eigentlich als Latenzzeit ansieht, also jener Zeit, bevor der Krebs ausbricht. Wenn er aber, wie er behauptet, innerhalb dieser Periode bereits eine 40fache Erhöhung der Inzidenz von Schildrüsenkrebs findet, dann wäre das überhaupt nicht kompatibel mit der fünffachen Erhöhung, die man bei Tschernobyl innerhalb der Latenzzeit sieht.

Baverstock ist vollkommen meiner Meinung, daß man eigentlich erst in den nächsten Jahren erkennen wird, ob die Zahl der Schilddrüsenkrebsfälle sprunghaft nach oben geht. Dann erst wird man herausfinden können, was der Effekt von Strahlung ist und was nicht.

SB: Wobei ich die Tsuda-Studie so verstanden habe, daß diese 40fache Erhöhung auf einem Vergleich zu den Daten im Nationalen Krebsregister beruht. Wie ist das zu verstehen?

AK: Richtig, er hat die Daten aus Fukushima mit den Daten aus Gesamtjapan im Zeitraum 2001 bis 2008 verglichen. Diese Daten zeigen ebenfalls einen leichten Anstieg. Wenn ich das richtig erinnere, hat er zum Vergleich das letzte Jahr gewählt, da wurden drei Fälle von Schilddrüsenkrebs auf eine Million getestete Einwohner registriert. Er selbst hat in der Präfektur Fukushima rund dreizehn Fälle pro Hunderttausend gefunden, was tatsächlich ungefähr auf eine Erhöhung um den Faktor 40 hinausläuft. Das ist einfach unerklärt.

Um das noch einmal zusammenzufassen: Wenn man bei der Tschernobyl-Explosion, durch die eine wesentlich höhere Schilddrüsenbelastung auftrat - die Kollektivdosis [7] war ungefähr 20mal so hoch wie bei Fukushima -, eine fünffache Erhöhung der Krebsrate hat, kann man jetzt in Fukushima nicht einen Effekt erwarten, der viel, viel größer ist als diese Erhöhung - und das auch noch in einem kürzeren Zeitraum, wohlgemerkt.

SB: Könnten in Fukushima eventuell Synergie-Effekte aufgetreten sein, aufgrund derer der Zeitpunkt des Ausbruchs von Schilddrüsenkrebs wider Erwarten nach vorne verlegt wurde?

AK: Ich bin kein Mediziner. Von daher fällt es mir schwer, dazu irgend etwas zu sagen. Doch nach allem, was ich bis jetzt dazu gehört habe, ist das, was Tsuda herausgefunden hat, für Dr. Jacob [8], den führenden deutschen Experten für Schilddrüsenkrebs, ganz klar ein Screening-Effekt. Von ihm könnte man erwarten, daß er Synergie-Effekte erwähnt, falls es sie gibt. Er aber sagt, daß man durch das Screening sehr viel mehr Krebsfälle findet, als man sie sonst fände, wenn man kein Screening machen würde.

Nur, man darf nicht vergessen: Diesen riesigen Faktor, den man hier in Fukushima sieht, kann auch Jacob nicht erklären. Das bleibt somit vorläufig ungeklärt.

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:

[1] Toshihide Tsuda, Akiko Tokinobu, Eiji Yamamoto, Etsuji Suzuki: "Thyroid Cancer Detection by Ultrasound Among Residents Ages 18 Years and Younger in Fukushima, Japan: 2011 to 2014". In: Epidemiology, 5. Oktober 2015.
http://journals.lww.com/epidem/Abstract/publishahead/Thyroid_Cancer_Detection_by_Ultrasound_Among.99115.aspx

[2] Prof. Tsudas Redemanuskript finden Sie hier:
http://www.tschernobylkongress.de/fileadmin/user_upload/T30F5/P1_Tsuda_speech_final.pdf

[3] http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0207.html

[4] Dr. Körbleins Schaubilder und Power-Point-Folien aus den beiden Vorträgen finden Sie hier:
http://www.tschernobylkongress.de/fileadmin/user_upload/T30F5/F2_Koerblein_final.pdf und hier:
http://www.tschernobylkongress.de/fileadmin/user_upload/T30F5/F6_Koerblein-Fukushima_final.pdf

[5] Dr. Keith Baverstock ist ehemaliger Mitarbeiter der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und heute Dozent an der Faculty of Natural and Environmental Sciences, University of Kuopio, in Finnland.

[6] In dem Vortrag sagte Prof. Tsuda, daß er inzwischen auch neuere Daten analysiert habe, die seine Ergebnisse bestätigten.

[7] Kollektivdosis ist das Produkt aus der Anzahl der Personen einer Radioaktivität ausgesetzten Bevölkerungsgruppe und der mittleren Dosis pro Person. Üblicherweise wird als Einheit für die Kollektivdosis "Personen-Sievert" gewählt.

[8] Dr. Peter Jacob, Sprecher des Department of Radiation Sciences, Helmholtz Zentrum München. Jacob wurde 2015 und 2016 zum Vizevorsitzenden des United Nations Scientific Commitee of the Effects of Atomic Radiation (UNSCEAR) gewählt.


Die Berichterstattung des Schattenblick zum IPPNW-Kongress finden Sie unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT:

BERICHT/112: Profit aus Zerstörungskraft - Herrschaftsstrategie Atomwirtschaft ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0112.html

BERICHT/113: Profit aus Zerstörungskraft - kein Frieden mit der Atomkraft ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0113.html

INTERVIEW/203: Profit aus Zerstörungskraft - nach unten unbegrenzt ...    Dr. Alexander Rosen im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0203.html

INTERVIEW/204: Profit aus Zerstörungskraft - Spielball der Atommächte ...    Dr. Helen Caldicott im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0204.html

INTERVIEW/205: Profit aus Zerstörungskraft - systemische Verschleierung ...    Tomoyuki Takada im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0205.html

INTERVIEW/206: Profit aus Zerstörungskraft - auf verlorenem Posten ...    Ian Thomas Ash und Rei Horikoshi im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0206.html

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http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0207.html

INTERVIEW/208: Profit aus Zerstörungskraft - Empathie und Trauma ...    Tatjana Semenchuk im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0208.html

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http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0209.html

30. März 2016


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