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INTERVIEW/237: Forschung, Klima und polar - Eiskernforschungshoffnungsschimmer ...    Prof. Olaf Eisen im Gespräch (SB)


Umweltphysik auf und mit der Polarstern

Recherche-Reise der Deutschen Physikalischen Gesellschaft am 2./3. Juni 2016 nach Bremerhaven

Prof. Olaf Eisen über unerforschte Stellschrauben in Klimaregelkreisen, die Bedeutung von Gasbläschen in uraltem Eis, eisbrechende Probleme mit dem heiklen Probenmaterial, klimabedingte Ungleichgewichte in natürlichen Zyklen und warum Eisforscher nicht bloß einen 1,5 Millionen Jahre alten Eisbohrkern brauchen, sondern zwei ...


Statt Eis und Schnee, ist die Gletscherlandschaft voll Asche und Ruß - Foto: 2011 by Boaworm (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Grímsvötn auf Island - Ein Eisvulkan kurz nach seinem Ausbruch
Foto: 2011 by Boaworm (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Aktuelle Nachrichten über das Klima sind selten gut. So verzeichneten Anfang dieses Jahres Meßstationen in der Arktis extrem milde Lufttemperaturen, die zwei bis sechs Grad Celsius über dem langjährigen Mittel lagen, auch die Winterausdehnung des arktischen Meereises fiel deutlich kleiner aus als erwartet. Wenn auch beide Extremereignisse gemeinhin nicht unmittelbar auf den Klimawandel zurückgeführt werden, sind sie doch bezeichnend für einen weltweit spürbaren Trend zunehmend extremer Wettervorfälle und Klimaphänomene, die nicht mehr als Zufall verschleiert werden können. Die mittlere jährliche Zahl sogenannter "heißer Tage", mit Höchsttemperaturen ab 30 Grad Celsius, sowie die Zahl der "Tropennächte" mit Tiefsttemperaturen von wenigstens 20 Grad haben fast überall auf der Welt zugenommen. Beschwichtigende Argumente seitens der Klimatologie, Klimaschwankungen seien schon immer ein wesentlicher Teil der Entwicklungsgeschichte der Erde gewesen, lassen viele Fragen offen. Das gilt ebenso für die Erklärungen der Paläoklimatologie, die Ausnahmen von der Regel seien zumeist auf externe Anregungen (Änderungen der Erdbahnparameter, Vulkanausbrüche und Änderungen in der solaren Einstrahlungsintensität) und interne Wechselwirkungen im Klimasystem zwischen Atmosphäre, Eismassen, Ozeanen, Landoberflächen und den damals existierenden Lebensformen zurückzuführen. Eines sind sie aber definitiv nicht: eine Erklärung für die zunehmende Erderwärmung der vergangenen 50 Jahre, für die niemand anderes als der Mensch mit seinen Abgasen und Industrieemissionen verantwortlich ist. Die Konzentration des Treibhausgases Kohlenstoffdioxid (CO2) - so sagen die Klimaforscher - ist im Jahr 2015 so stark angewachsen wie noch nie seit Beginn der exakten weltweiten Messungen. Im Jahr 1958 begann auf der Mauna Loa Station auf Hawaii die Aufzeichnung der atmosphärischen Konzentration des CO2. Die grafische Übersetzung ist eine Kurve, die nur eine Richtung kennt: nach oben. Wenn dieser Trend nicht ebenfalls durch den Menschen wieder unverzüglich in die Gegenrichtung auskorrigiert wird, was aufgrund der dafür drastisch notwendigen Maßnahmen, die auch die Lebensweise der industrialisierten Welt beträfen, sehr schwer werden dürfte, erwarten die Experten in den nächsten 100 Jahren eine weitere weltweite Erwärmung von mindestens drei Grad Celsius.

Schon lange konzentrieren sich detaillierte Untersuchungen über die physikalischen Ursachen von Klimaschwankungen, welche die nationale und internationale Klimaforschung [1] zur Priorität erklärt hat, vor allem darauf, Anpassungs- und Vermeidungsstrategien zu entwickeln. Hierfür sei es dringend notwendig, die bestehenden Wissenslücken zu schließen und das Klimasystem mit all seinen Wechselwirkungen, Kreisläufen, Änderungsfaktoren und Rückkopplungsschleifen zu verstehen, die zwischen Atmosphäre, Eis, Ozean und Landoberflächen stattfinden, mit und ohne den Einfluß des Menschen. Gerade Änderungen in den Polargebieten, die alle diese Komponenten und auch den Meeresspiegel betreffen, sind hierfür von besonderem Interesse. Im Rahmen der Glaziologie konzentriert sich das Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) auf den Teilaspekt, mit dem ein besseres Verständnis über die physikalische Dynamik an den Eisschilden erreicht werden soll, um klimatisch bedingte Änderungen besser modellieren und prognostizieren zu können.

Physikalische Eigenschaften aus uralten Eisbohrkernen und Gasbläschen, die noch einen Teil der früheren Atmosphäre enthalten und eine bessere Interpretation von Klimazeitreihen ermöglichen, sind ebenfalls ein Thema, das dazu beitragen soll. Hieran arbeitet Prof. Olaf Eisen mit seinem Team. Der Wissenschaftler war anläßlich der diesjährigen Recherche-Reise der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) zum Thema "Umweltphysik auf und mit der Polarstern" eingeladen worden, einigen Medienvertretern sein jüngstes Projekt, "die Suche nach dem ältesten Eis", vorzustellen. Er ist tatsächlich noch auf der Suche nach einem geeigneten Bohrplatz, der 1,5 Millionen altes Eis mit kontinuierlicher Schichtung freigeben soll. Zwar decken die aktuellen Klimaarchive bereits etwa 800.000 Jahre in die Vergangenheit ab. Doch in den immer noch ausstehenden Antworten sehen Klimatologen wie Paläoklimatologen eine ausreichende Rechtfertigung, in noch größere Eistiefen vorzudringen, um aus den Veränderungen im Urklima etwas für die Gegenwart zu lernen. Ob das aktuelle Projekt, dessen wissenschaftliche Auswertung frühstens 2025 begonnen werden kann, wenn alles glatt läuft, noch Antworten generiert, welche eine Kurswende für die absehbare Entwicklung bedeuten, bleibt allerdings fraglich und ist auch nicht das vorrangige Ziel des Projekts. Vor der Veranstaltung war Prof. Eisen zu einem Gespräch mit dem Schattenblick bereit ...


Im Büro des Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) - Foto: © 2016 by Schattenblick

Ihm geht es um eine kontinuierliche gut 'lesbare' Schichtung des Eises, so daß man es verschiedenen, klimatischen Phasen zuordnen kann.
Prof. Dr. Olaf Eisen
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick (SB): 2013 wurde in den Medien über den möglichen Ausbruch eines Vulkans berichtet, der sich zu jener Zeit gerade - so vermutete man damals - unter dem 1000 Meter dicken Eispanzer des Marie-Byrd-Landes, einem Teil der Westantarktis, bildete. Seither hat man in den Wissenschaftsrubriken der Medien kaum etwas darüber gehört. Haben sich die damaligen Befürchtungen nicht bestätigt?

Olaf Eisen (OE): Ich erinnere mich. Dieser Vulkan unter dem Eis wurde damals lokalisiert. Man hat festgestellt, dass er sehr aktiv ist, aber seitdem gab es keine weiteren Hinweise darauf, dass ein Ausbruch stattgefunden hat oder kurz bevorsteht. Deshalb ist darüber auch nichts weiter berichtet worden.

SB: Warum hatte Sie das Thema seinerzeit interessiert?

OE: Ein Eisvulkan ist für Glaziologen eine spannende Geschichte. Denn wenn der aktive Vulkan tatsächlich ausbricht, wird das zwangsläufig zu mehr Schmelze führen. In diesem Fall ist er nicht ausgebrochen. Wir wissen aber von Vulkanen aus anderen Regionen, Ätna und Vesuv sind da zwei Beispiele, dass sie für eine gewisse Zeit eine Aktivität zeigen, das heißt die Magmakammer füllt oder leert sich ein bißchen und diese Bewegung führt dann zu seismischen Beben. So eine Mikroseismizität war es auch in diesem speziellen Fall. Das muß keineswegs einen Ausbruch nach sich ziehen und so kam es auch. Nun sind drei Jahre für einen Vulkan noch keine lange Zeit. Es dauert meist um die 50 bis mehrere 100 Jahre, bis ein Vulkan wieder ausbricht, abgesehen von den Vulkanen in Island, die etwas aktiver sind. Daher ist es nicht ungewöhnlich, dass in den letzten Jahren nichts dergleichen in der Westantarktis passiert ist. Aber unser Interesse war damals geweckt.

SB: Wußte man zuvor schon von vulkanischen Aktivitäten unter der Antarktis oder war das auch für die Forscher neu?

OE: Dass es in der Antarktis und gerade in der Westantarktis diverse Spreitzungszonen gibt und vulkanisch sehr aktive Bereiche, ist den Geowissenschaftlern durchaus nicht neu. Aber dass man einen aktiven Vulkan gefunden hat, von dem wirklich ein wesentlich höherer Wärmestrom ausging als in anderen umliegenden Gebieten, in denen die flüssige Magma nicht so dicht an die Oberfläche kommt, das war schon eine neue Entdeckung. Für uns war das vor allem auch deshalb bemerkenswert, weil wir daran gut sehen können, inwieweit wir mit unseren Methoden in der Lage sind, die Temperaturverteilung zu bestimmen, ohne bohren zu müssen. Gerade die Temperatur, das heißt der Energiestrom, der von unten kommt, entscheidet über die Ereignisse, die an der Grenzfläche Festgestein-Eis stattfinden, also wie sich das Eis verhält, wieviel davon schmilzt, ob das Eis angefroren oder flüssig ist und was das für die Eisdynamik bedeutet. Damit gab es für uns auch die Gelegenheit zu beobachten, wie die Eisdynamik darauf reagiert.

SB: Was wäre bei solchen Aktivitäten im schlimmsten Fall zu befürchten? Reicht denn eine Schicht von 1.000 Meter Eis nicht aus, um solche vulkanischen Aktivitäten zu beruhigen? Man könnte sich das Ganze doch wie einen Kochtopf vorstellen, auf dem ein schwerer eisgekühlter Deckel liegt.

OE: Wenn sich das Magma in einer Magmakammer durch mehrere hundert Kilometer Mantel und dann noch einige zigtausend Meter Kruste durchgearbeitet hat, dann werden tausend Meter Eis wohl nicht das größte Problem sein. Es dauert wahrscheinlich nur etwas länger. Aufgrund der tieferen Temperaturen sind möglicherweise andere Energieflüsse nötig, um da tatsächlich durchzudringen. Aber wenn ein Vulkan ausbrechen möchte, dann spielt das bisschen Eis, das darauf liegt - wie man immer wieder in Island sehen kann - eigentlich keine große Rolle. Es sind dann allerdings andere Prozesse, die stattfinden, weil es erst zu einem sehr starken Schmelzen kommt. Das heißt, über die Energie, die unten verfügbar ist, schmilzt zunächst das Eis. Um tausend Meter Eis so einfach wegzusprengen, reicht die Energie nicht ohne weiteres. Das heißt, es kommt zunächst zu einer Schmelze. Gleichzeitig kann das Schmelzwasser in Kontakt mit dem Magma wieder sehr explosive Gemische ergeben, was man beim Ausbruch des isländischen Eyjafjallajökull eindrücklich beobachten konnte.

SB: Nur mal theoretisch gedacht: Würde so ein Ausbruch unter der Antarktis, bei dem der Eispanzer von unten angeschmolzen wird, eine Auswirkung auf den Anstieg des Meeresspiegels haben?

OE: Genau das sehen Sie alle fünf bis zehn Jahre in Island, wenn sich die Kaldera des Grímsvötn wieder gefüllt hat: Da von unten sehr viel Energie zugeführt wird, kommt es zum Schmelzen der Eisschicht, ein See bildet sich und wenn dieser irgendwann groß genug ist, läuft er aus.

Was in Island jedoch in einem kleineren Maßstab beobachtet werden kann, würde in der Antarktis vor allem davon abhängen, an welcher Stelle sich der Vulkan befindet und wie groß die davon betroffene Fläche ist. In Island ist die Hauptkaldera mehrere hundert Meter mächtig, auf der Oberfläche entsteht zunächst eine Senke und wenn das Eis einbricht, ist das kein großer Massenverlust. Und ganz ähnlich wäre die Situation dann auch in der Antarktis. Falls es ein Vulkan ist, würde der Krater bei einer Eisdicke von zwei bis drei Kilometern vermutlich nicht größer als fünf oder zehn Kilometer sein. Das Eis würde zum Teil schmelzen, dann unter dem noch benachbarten Eis ins Meer abfließen und entsprechend seines Volumens zum Meeresspiegelanstieg führen. Das wäre aber nur ein Bruchteil. Je nachdem, was der Vulkan dann macht, wird sich die Senke mit der Zeit durch den Niederschlag wieder mit Eis füllen. Dafür würde die Feuchtigkeit letztendlich wieder aus dem Meer kommen. Das wäre der normale Kreislauf, der mehrere Jahrzehnte bis Jahrhunderte dauern würde, je nachdem wie groß dieses Phänomen insgesamt gewesen ist.


Schematische Darstellung des Zustands bei der Eruption, mit 1. Wasserdampfwolke, 2. See, 3. Gletschereis , 4. Lava- und Aschelagen, 5. Geologische Schichten, 6. Kissenlava, 7. Vulkanschlot, 8. Magmenkammer und 9. Dike - Grafik: 2007 by Sémhur, als Free Art License 1.3 [http://artlibre.org/licence/lal/en/] via Wikimedia Commons

Die Senke füllt sich wieder, auch wenn es Jahrhunderte dauern kann.
Schematischer Ausbruch eines Vulkans unter dem Eis.
Grafik: 2007 by Sémhur, als Free Art License 1.3 [http://artlibre.org/licence/lal/en/] via Wikimedia Commons

SB: Eis und Schnee reflektieren einen Großteil der von der Sonne einfallenden Wärmestrahlung. Im Sommer heizt sich ein schwarzes Auto schneller auf als eines mit hellem Lack. Könnten Asche- und Rußpartikel, die mit einem Vulkanausbruch normalerweise einhergehen, ein weiteres Abdunkeln des Eises bewirken und das Verschlucken von Wärmestrahlen die Gletscherschmelze beschleunigen?

OE: In der Antarktis wird das vermutlich keine so große Rolle spielen wie in Grönland, weil hier auch im Sommer immer ein konstanter Schneezutrag, wenn auch von kleinen Mengen, vorhanden ist. Was die Antarktis an Masse verliert, geht entweder auf normales Schmelzen an der Unterseite von "gegründetem" Eis zurück, das ist Eis, das auf dem Felsboden aufsitzt, oder auf die Schelfe, die im Wasser schwimmen und sich in einem Schwimmgleichgewicht befinden, und schließlich kommt ein weiterer Verlust durch das "Kalben von Eisbergen" zustande. Klassischen Ablationszonen wie in Grönland, in denen wirklich mehr als die Hälfte der Fläche Ablationszone [2] ist und sich dann auch entsprechend von den eingetragenen Schmutzpartikeln die Rückstreuungseigenschaften der Oberfläche verändern kann, die sogenannte Albedo, gibt es hier nicht. Wenn sich in Grönland Schmutzpartikel auf die reine Eisoberfläche absetzen, dann wird sie tatsächlich so dunkel, wie man es auch von alpinen Gletschern kennt. Diese dunklen Flächen absorbieren natürlich mehr Energie und schmelzen dann. Doch in der Antarktis sehen wir das überhaupt nicht.

Unsere Eisbohrkerne bestätigen das auch. Ausbrüche in der Vergangenheit, bei denen viel Asche deponiert wurde, so dass man zwei Zentimeter dicke Schichten davon im Eis findet, wurden hier einfach wieder von Schnee zugedeckt. Mehr ist nicht passiert. Es kam deswegen keine Schmelze zustande.

SB: Glauben Sie, dass ähnliche Hot Spots bzw. vulkanische Aktivitäten unter dem Eis in anderen geologischen Formationen noch eine Gefahr "von unten" für Eisschilde werden könnten? Und wenn ja, wo sind die zu finden?

OE: Die ganz großen Eisvulkane finden wir nur in Island. Da entsteht allein aufgrund der Geologie eine starke Wechselwirkung zwischen vulkanischer Aktivität und Eis, die auch sehr spektakulär anzusehen ist. Aber das findet eigentlich seit Jahrhunderten in einem gewissen Gleichgewicht immer wieder statt. Es kommt zu einem Ausbruch, dabei verschwindet ein Teil der Masse, gleichzeitig wird beziehungsweise wurde bislang genug Schnee nachgeliefert, damit der Gletscher sich wieder erholen und seine ursprüngliche Größe wiederherstellen konnte.

Dieses Gleichgewicht wird aber durch den Einfluß des Klimawandels zunehmend in einen Bereich verschoben, den man als Ungleichgewicht bezeichnen muß. Das heißt, wenn jetzt ein Gletscher in Island durch einen Vulkanausbruch Masse verlieren würde, kann es durchaus sein, dass dieses Ereignis den gesamten Rückgang des Gletschers beschleunigen würde.

Die regelrechten Hot Spots, bei denen durch Staub- oder Rußeintrag beispielsweise aus den Abgasen der Vulkane die Energieaufnahme über die Absorbtion der Sonnenstrahlung zu vermehrtem Schmelzen führt, sind hauptsächlich in Grönland zu finden, in denen diese Ablationszone recht groß ist. Ansonsten gibt es die Kombination von vulkanischer Aktivität und Eis nur noch in einigen Stellen der Antarktis. Dort ist diese Problematik aber nicht akut.

SB: Um noch einmal auf die Eisbohrkerne zurückzukommen, von denen Sie gerade sprachen, wie alt ist eigentlich das älteste Eis, nach dem Sie mit Ihrer Forschungsgruppe suchen und warum ist es für Glaziologen so interessant?

OE: Wir haben schon Eis gefunden, das eine Million Jahre alt ist. Es gibt sicherlich noch Eis, das älter ist, aber das konnte entweder noch nicht datiert werden oder wir haben es noch nicht gefunden, weil es eben noch unter dem anderen Eis ist. Wenn Sie sich vorstellen, Sie haben jetzt ein Gebirge wie die Alpen, auf dem vier Kilometer Eis liegen, dann kann es durchaus sein, dass in sehr tiefen Tälern entsprechend sehr altes Eis vorhanden ist und das wurde einfach immer überfahren. Aber das können wir, bevor wir es beproben, überhaupt nicht datieren, das wäre zu schwierig.

Das älteste Eis, nach dem wir jetzt suchen, muß nicht das älteste Eis an sich sein, sondern eine datierbare, kontinuierliche Zeitreihe von heute bis 1,5 Millionen Jahre zurück. Darin hoffen wir die Änderung im Wechsel der Glazial-Interglazialzyklen, also dieser Kaltzeit-Warmzeit-Zyklen, zu finden.

Heutzutage leben wir in der Hunderttausend-Jahre-Welt, alle hunderttausend Jahre kommt eine Kaltzeit, umgangssprachlich spricht man dann von einer Eiszeit. Vor 1 bis 1,2 Millionen Jahren waren das aber Zyklen mit 40.000 Jahre andauernden Perioden. Das konnten wir aus marinen Sedimentkernen entnehmen. Die Schwierigkeit ist jetzt zu verstehen, warum sich dieses Klimasystem geändert hat, warum wir von 40.000 Jahres-Zyklen zu 100.000 Jahres-Zyklen gewechselt haben und welche Rolle dabei die Treibhausgase wie CO2, Lachgas oder Methan spielen. Wir können zwar aus Isotopen [3] in marinen Sedimentkernen rekonstruieren, wie die Eismassen sich verändert haben, aber in den Stellvertreterinformationen oder Proxydaten der Sedimentkerne ist nichts darüber gespeichert, was zu jener Zeit in der Atmosphäre vor sich gegangen ist.

Deshalb sind Eiskerne für uns so kostbar, weil darin auch Gaseinschlüsse bzw. Blasen eingearbeitet sind und man auf diese Weise direkt die sogenannte Paläo-Atmosphäre, die vergangene Atmosphäre, beproben kann. Mit Hilfe einer kontinuierlichen Zeitreihe bis 1,5 Millionen Jahre in die Vergangenheit könnten wir schließen, was die Treibhausgase gemacht haben und diese Erkenntnisse mit den aus Sedimentkernen ermittelten Temperaturänderungen auf der Erde und den Massenänderungen in den Eisschilden in Beziehung setzen, um die Prozesse zu verstehen, die dahinter stecken. Etwa, ob die Treibhausgase die Treiber von diesen Änderungen waren oder vielleicht auch die Getriebenen? Gab es einen besonderen Mechanismus, der zu so einer Korrelation geführt hat?

Nur wenn wir das genau verstanden haben, durchschauen wir einen weiteren Teil des Klimasystems, auf den wir bisher keinen Zugriff haben. Denn wir versuchen durch die Vergangenheit etwas über die Zukunft zu lernen.

Gerade jetzt, während sich der zunehmende CO2-Eintrag in die Atmosphäre bereits als Klimaerwärmung bemerkbar macht und auch wenn unsere Prognosen recht zuverlässig zu sein scheinen, gibt es doch noch einige Komponenten im Klimasystem abzuklären, gerade was den Kohlenstoffkreislauf angeht, die wir nicht vollständig verstanden haben. Der Übergang von der 40.000 Jahre-Welt zur 100.000 Jahre-Welt gehört dazu. Deswegen sind die Glaziologen, aber auch die Klimawissenschaftler und Paläoklimatologen sehr daran interessiert, wirklich lange und kontinuierliche Zeitreihen der Treibhausgase zu bekommen.

SB: Wie verläßlich sind solche Klimaarchive, die man aus Eis gewinnen kann?

OE: Das hängt wieder von der Frage ab, wie viele Archive zur Verfügung stehen, mit welchen Ungenauigkeiten man es in dem Archiv selber zu tun hat oder welche Ungenauigkeit durch die Analysemethoden selbst auftreten. Oftmals läßt sich nicht unterscheiden, ob das, was wir vielleicht in bestimmten Stoffen sehen, nur eine lokale Ausprägung ist, oder ob sie regionale oder sogar globale Bedeutung hat. Auch bestehen natürlich gewisse Unsicherheiten, weil wir nur über diese Archive in die Vergangenheit gehen können, aber im Großen und Ganzen haben wir die Muster verstanden, zumal wir auch in der Lage sind, mit numerischen Modellen die Phänomene nachzubilden, anders gesagt, die Vergangenheit zu rekonstruieren.

So können wir das Wachsen und Verschwinden von Eisschilden in Reaktion auf Veränderung der orbitalen Parameter von der Erde und der Sonne zurückführen. Das heißt, wie sich die Erde um die Sonne bewegt, wie sich die Präzession und die Erdneigung verändern im Bereich von 10.000 bis 100.000 Jahren, können wir durch Modelle abbilden, indem einfach die mathematischen, physikalischen Formeln in numerische Codes umgesetzt werden und das dann als Computersimulation läuft. Diese Prozesse, die wir nachbilden können, haben wir dann auch verstanden, vor allem, wenn sie mit den Klimaarchiven übereinstimmen.

Probleme gibt es dann beispielsweise bei bestimmten physikalischen Beobachtungen, wie die Dansgaard-Oeschger-Ereignisse [4], die sich in den Klimaproxys aus Eisbohrkernen zeigen. Darin wurden rasante Temperaturänderungen von 10 bis 15 Grad innerhalb von wenigen Jahren oder Jahrzehnten in der letzten Kaltzeit nachgewiesen. Hier stellt sich die Frage, von gewissen kleinen Unsicherheiten in den Analysenmethoden mal abgesehen, ob man das auf die ganze Welt übertragen kann oder ob das nur in Grönland stattgefunden hat. Da wird es dann schwierig, abzuschätzen, ob so etwas von größerer, globaler Bedeutung ist oder nicht.

In einem solchen Fall braucht man dann verschiedene Archive, die man vergleicht und wenn die Interpretation in den verschiedenen Archiven konsistent beziehungsweise schlüssig ist, sich also in Archiven aus Tropfstein das gleiche Bild zeigt wie in Eiskernen oder Sedimentkernen, dann kann man sich natürlich wesentlich stärker auf diese Archive verlassen und erhält dementsprechend eine höhere Genauigkeit, als wenn man nur ein einziges Archiv nutzt, das sich nicht mit anderen vergleichen läßt. Das ist auch ein Grund, warum wir gerade beim ältesten Eiskern eigentlich nicht nur einen, sondern nach Möglichkeit zwei an zwei verschiedenen Orten extrahieren wollen, so dass man die gewonnenen Daten noch einmal am zweiten Eiskern mit einer unabhängigen Information überprüfen kann und sicher ist, dass die Einzelinformation nicht auf eine zufällige Besonderheit vor Ort zurückgeht, etwa dass sich das Eis gefaltet hat oder das Gerät kaputt war.

SB: Sollten diese zwei Eisbohrkerne möglichst weit auseinander liegen, damit gewährleistet ist, dass die früheren Eisschichten unterschiedlichen Umwelteinflüssen ausgesetzt waren, oder können oder sollten sie sogar dicht nebeneinander liegen?

OE: Idealerweise sollte an verschiedenen Stellen der Antarktis gebohrt werden, um wirklich unabhängige Informationen zu bekommen. Da wir aber gar nicht genau wissen, wo wir überhaupt dieses älteste Eis finden, kann es durchaus sein, dass wir am Schluß wirklich nur einen Fleck haben, wo wir das erbohren können und die beiden Kerne dann vielleicht nur 50 Kilometer Abstand voneinander haben. Aber selbst dann ergäben zwei Bohrkerne verläßlichere Aussagen. Von großem Vorteil wäre es aber, wenn man sie aus ganz unterschiedlichen Einzugsgebieten gewinnen könnte, etwa zum einen im Dome Concordia und zum anderen im Dome Fuji, die etwa 1000 Kilometer auseinanderliegen.

SB: Wenn Sie die Eisbohrkerne erbohrt haben, wie und wo wird das alte Eis eigentlich aufbewahrt? Verändert es sich nicht, wenn es aus seinen natürlichen Bedingungen, beispielsweise anderen natürlichen Druckverhältnissen, herausgerissen wurde? Und wie schnell müssen Glaziologen bei der Analyse sein, um wirklich authentische Ergebnisse zu erhalten?

OE: Das kommt darauf an, was man untersucht. Tatsächlich muß man sehr vorsichtig arbeiten, um eine Kontamination auszuschließen. Was den Druck angeht, erbohrt man mittlerweile zunächst den Kern, dann folgen erste, grobe zerstörungsfreie Messungen, beispielsweise der elektrischen Eigenschaften, wozu man ihn durch eine Messbank schiebt. Anschließend werden die Proben erst einmal ein Jahr am Bohrort bei minus 40 oder sogar minus 50 Grad in dem Bohrschacht gelagert. In dieser Zeit können sich die Spannungen langsam abbauen. Anschließend werden die Kerne dann in unserem Fall ins AWI überführt, das einige größeren europäischen Projekte koordiniert, da wir hier in Bremerhaven das größte Labor dafür haben. Hier werden die Kerne dann zersägt und vermessen und anschließend in den Archiven untergebracht. Unsere Archive werden derzeit auf einer Temperatur von minus 25 bis minus 30 Grad gehalten und in der Tat sind manche der Stoffe, die wir untersuchen wollen, trotz dieser tiefen Temperaturen noch mobil. Das heißt, die Zusammensetzung des Eises kann sich bei der Archivierung leicht verändern, vor allem auch die Mikrostruktur, also die Kristallgröße.

Deshalb überlegt man auch gerade, das alte Eis bei minus 50 Grad zu lagern, was natürlich im Vergleich zu minus 30 Grad einen energetisch wesentlich höheren Aufwand, aber eben auch eine bessere Haltbarkeit mit sich bringen würde. Diskutiert wird ebenfalls die Möglichkeit, Archivstücke wieder in die Antarktis zurückzutransportieren, um sie bei den dort vorherrschenden sehr tiefen Temperaturen längere Zeit zu lagern, auch für nachfolgende Generationen. Wir gehen davon aus, dass die Analysenmethoden in einigen Jahren wesentlich genauer sein werden als heute, so dass man dann noch einmal auf die Archivstücke zurückgreifen könnte.


Eiskeller an der Kohnen-Station zur Untersuchung von Eisbohrkernen. - Foto: © by Alfred-Wegener-Institut / Reinhard Sibberns

Eisbohrkerne werden mindestens ein Jahr am Ort der Probennahme gelagert, damit sich Spannungen abbauen können.
Foto: © by Alfred-Wegener-Institut / Reinhard Sibberns

SB: Woher kommen die Spannungen, von denen Sie gesprochen haben? Werden die durch den Bohrvorgang erzeugt?

OE: Nein, es handelt sich nur um die Auflast. Sie müssen sich mal vorstellen, dass dieses Eis unter einer drei Kilometer starken Eisschicht herausgebohrt wurde. Das entspricht etwa 300 bar und wenn das Eis dann an die Oberfläche gebracht wird, fällt diese Auflast und damit diese Spannung plötzlich weg. Bis dahin war das Eis nur sehr langsamen physikalischen Prozessen ausgesetzt.

Im Eis sind aber auch diese Luftblasen, das heißt Gase, eingeschlossen und bei einer Tiefe von etwa 1.000 Meter gehen die in sogenannte Klathrate über. Das sind Gashydrate, bei denen die Gase in die Eisstruktur, in das Gitter eingebaut werden können. Wenn der Bohrkern dann beim Heraufholen nicht langsam und sanft genug behandelt wird, können die Klathrate plötzlich zurück in Gas und Wasserdampf übergehen, so dass der Kern komplett zerspringt.

Abgesehen davon ist das Bohren an sich natürlich ein mechanischer Vorgang, der tatsächlich gewisse Spannung aufbaut. In dieser sogenannten "Brittle zone", wie wir die spröde Zone nennen, kann es dabei durchaus zur Beschädigung des Eisbohrkerns kommen.

SB: Wenn Sie Meter für Meter einen kontinuierlichen Eisbohrkern zutage fördern, an welchen Charakteristika kann man eigentlich feststellen, welches Alter das jeweilige Stück hat, damit man beispielsweise die gewonnenen Daten nicht verwechselt und dem richtigen Zeitabschnitt zusortiert?

OE: Zum einen bestimmen wir die Zusammensetzung von Isotopen, vor allem der stabilen Sauerstoff-Isotope oder auch von Deuterium (einem Wasserstoffisotop) und ermitteln daraus dann einen Stellvertreter für Temperaturänderung. Etwas Entsprechendes wurde auch schon mit Sedimentkernen durchgeführt, so dass man dann eine Zeitreihe eines Sedimentkerns hat und nun die Daten des Eiskerns daneben legen kann. Das kann schwanken, doch bei 800.000 Jahren finden wir Proben, die sehr gut zusammenpassen. So dass wir davon ausgehen können, dass das Alter hier stimmt. Auf diese Weise kann man das dann natürlich auch noch weiter in die Vergangenheit fortsetzen.

Wir wollen aber auch etwas über die Gaseinschlüsse der damaligen Atmosphäre, also Kohlenstoffdioxid, Lachgas und Methan herausfinden, sowie ihre Bedeutung für die Kalt-Warm-Zyklen. Das Problem der absoluten, radiochronolgischen Verfahren ist jedoch, dass man sehr sauberes Eis bekommt, und das enthält vergleichsweise sehr wenig Material, um eine Datierung vorzunehmen.

Etwas anders ist es, wenn Sie ein Stück altes Holz verwenden. Daraus lassen sich ziemlich große Blöcke herausschneiden. Ein Eiskern hat insgesamt nur einen Durchmesser von zehn Zentimetern. Das ist sehr wenig Material. Deshalb muß bei diesen Verfahren sehr akkurat und genau gearbeitet werden, um überhaupt verläßliche Ergebnisse zu erzielen. Wir gehen deshalb zum Erzielen wirklich konsistenter Daten auf verschiedene Weise vor: Neben den eigentlichen Datierungen aus den Eiskernen versucht man das Alter über glaziologische Prozesse zu modellieren. Das heißt, das Alter wird aus einer Berechnung abgeschätzt, in die Niederschlagsraten, Schmelzfluß, Temperaturmessungen im Bohrloch und daraus hergeleitete geothermale Wärmeströme eingehen, an die wiederum das Modell angepaßt wird, so dass man am Ende ungefähr auf eine Altersperiode zwischen 800.000 und einer Million und älter schließen kann. Und das ist dann wieder konsistent mit den Daten, die wir im Kern selbst finden oder auch nicht. Solange der Kern nicht zu tief ist, kann man auch ganz einfach saisonale Änderungen zählen, also gewissermaßen wie die Baumringe bestimmte Jahresschichten zählen. Damit kommen wir aber nicht weiter als 300.000 Jahre. Bei dem alten Eis, nach dem wir suchen, wird das in großer Tiefe mit der Schichtdicke, die wir erwarten, nicht mehr möglich sein.

SB: Das hört sich gewaltig aufwendig und kompliziert an.

OE: Deswegen ist diese Suche nach dem ältesten Eis eine der größten Herausforderungen die es momentan in der Eiskernforschung gibt. Doch bevor wir mit den Analysen beginnen können, müssen wir ja erst einmal einen entsprechend geeigneten Ort finden, an dem wir tatsächlich Eis erbohren können, das die Bedingungen erfüllt, die wir für die Analysen brauchen. Das heißt, das Eis sollte so ungestört wie möglich entstanden sein, mit einer möglichst gleichmäßigen Schichtung. Für diese Vorerkundungen die geeigneten Methoden zu finden, bin ich als Geophysiker zuständig. Dann wird der Eiskern in größerer, internationaler Kooperation gebohrt und anschließend in verschiedene Stücke auf verschiedene Forschergruppen aufgeteilt. Die einen analysieren die Gase, die anderen die Isotope, wieder andere den Staub. Daraus werden die Kohlenstoffzeitreihen erstellt. Damit und auch mit der Eiskernanalyse im Einzelnen habe ich selbst weniger zu tun. Ich beschäftige mich noch mit den physikalischen Eigenschaften, das heiß mit der Kristalltextur oder den elektrischen Eigenschaften des Eises. Das ganze ist ein Projekt, an dem viele Disziplinen beteiligt werden. Eine allein kann das nicht schaffen.

SB: Sehen Sie, abgesehen von der Gewinnung dieser Proxydaten, um die Wechselwirkung von Treibhausgasen mit den Eismassen und ihre Bedeutung für die Klimaveränderung zu verstehen, noch weiteren, dringenden Forschungsbedarf im Eis?

OE: Es gibt natürlich noch andere Bereiche, wenn es um die Eisdynamik geht. Wie stabil ist das Eis eigentlich? Wie schnell kann sich das Eis verändern? Das gehört allerdings nicht in die Paläoklimatologie, sondern zu den sogenannten Massenbilanzstudien für arktisches und antarktisches Landeis und betrifft den Meeresspiegelanstieg. Das sind die beiden ganz großen Bereiche, die für die Klimaforschung wichtig sind. Der arktische Meereisrückgang verursacht wiederum auf andere Weise Anomalien in Ozean und Atmosphäre, die einen Einfluß auf die Klimaentwicklung haben, nicht aber auf den Meeresspiegel.

Auch dort gibt es noch Bereiche, die wir gerade erst zu verstehen beginnen. Im vierten Sachstandsbericht des IPCC [Intergovernmental Panel on Climate Change, Weltklimarat] wurde ganz klar gesagt, wir verstehen die Eisdynamik nicht. In den beiden Jahren danach hat sich noch viel getan. Beim fünften Bericht wurden die Aussagen diesbezüglich ein bißchen quantifiziert und damit deutlich besser, aber es gibt immer noch Bereiche in denen wir nicht klar sagen können, ob die Prognosen so stimmen oder es vielleicht noch viel schlimmer kommt. Das gilt auch für die Westantarktis. Die Frage, ob sie einfach unumkehrbar in den nächsten hundert Jahren abschmilzt oder sich der augenblickliche Prozeß wieder aufgrund von Veränderungen stabilisieren wird, können wir immer noch nicht genau vorhersagen, weil unsere Modelle noch nicht so weit sind.

SB: Inwieweit könnte der Meeresspiegelanstieg beim Abschmelzen der sogenannten Auslaßgletscher eine Art Tipping Point darstellen und das Abschmelzen beschleunigen?

OE: Dass es, wenn ein bestimmter kritischer Punkt überschritten ist, zu einer Dynamisierung des Systems kommt und wesentlich schneller Masse verloren gehen wird, als sich umgekehrt über Schneezutrag auf dem Eis wieder neues Eis bilden kann, ist sehr wahrscheinlich. Eine solche Überschreitung des Tipping Point befürchten wir gerade in der Westantarktis. Das heißt natürlich nicht, dass jetzt wie bei einem Unwetter in zwei Tagen plötzlich das Eis ganz weg sein muß, aber auf klimatologischen Zeitskalen, also über die nächsten hunderte Jahre, ist das zu erwarten.

SB: Wissenschaft geht ja gewöhnlich immer von reproduzierbaren Ergebnissen, Kreisläufen und Gesetzmäßigkeiten aus. Wäre es auch vorstellbar, dass eine solche erwartete beschleunigte Gletscherschmelze überhaupt keinen Regeln folgt?

OE: Meinen Sie chaotisch, im Sinne von nicht deterministisch, also nicht vorhersehbar?

SB: Genau, eine Entwicklung, die man nicht erwartet hatte, die aus den bisherigen Modellen oder Berechnungen nicht hervorgeht.

OE: Ein Gletscherverhalten, das keinem Regelkreis folgt, gibt es meines Erachtens nicht, aber es ist durchaus möglich, dass wir noch nicht alle Schrauben in diesem Mechanismus kennen. Genauso wie wir vor 15 bis 20 Jahren davon ausgegangen sind, dass Gletscher etwas sehr Träges und Behäbiges sind, vor allem auch die Eisschelfe, und dann auf einmal in Grönland feststellen mußten, dass die Eiszungen bereits bei etwas wärmerem Wasser deutlich schneller, auf sehr kurzen Zeitskalen abschmelzen. Ebenso werden sie wieder langsamer, sobald die Wassertemperatur sinkt. Das war bis dahin nicht beobachtet worden, weswegen man von der Gesamtbeobachtung ausging, dass sich die Eismassen alle sehr träge verhalten. Dennoch bleibt es immer der gleiche Regelkreis, nur wenn man an dieser Temperaturschraube dreht, dann werden die Prozesse alle sehr viel schneller.

Gerade was die subglazialen Eigenschaften angeht, also die hydrologischen Prozesse, die zwischen dem Eis und dem Untergrund stattfinden, könnte ich mir vorstellen, dass wir noch nicht alles verstanden haben, was den Faktor Wasser angeht. Aber auch dann handelt es sich letztendlich um einen physikalischer Regelmechanismus, der gewissen Naturgesetzen folgt. Es ist nichts Willkürliches.

SB: Was hat Sie persönlich dazu bewegt, dieses Forschungsthema zu wählen, also Glaziologe zu werden?

OE: Seit meiner Kindheit haben mich Schnee und Eis fasziniert. Gletscher sind etwas sehr Kraftvolles, das sieht man in den Alpen, wenn man auf einem Gletscher unterwegs ist, die haben die Landschaft geformt, gleichzeitig sind sie auch sehr träge, aber gerade durch dieses persistente, dieses ständige, langsame Fließen, können sie viel bewegen. Das finde ich persönlich überaus spannend und da kam irgendwann auch die Idee, mich damit dauerhaft in meinem Leben zu beschäftigen. Das paßt zu meinen Neigungen, zu meinen Fähigkeiten.

SB: Vielen Dank, Herr Prof. Eisen, für das Gespräch.


Anmerkungen:

[1] siehe World Climate Research Programme

www.wcrp-climate.org

Eine aktuelle Zusammenfassung des gegenwärtigen Wissens über das Klimasystem ist im letzten Bericht des Weltklimarates (Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change (www.ipcc.ch) dargestellt.

[2] Die Ablationszone oder auch z.Dt. das Zehrgebiet ist der Bereich des Gletschers, in dem der Massenverlust stattfindet: Ablation bezeichnet in enger Definition die Abschmelzung von Schnee, Firn oder Eis. In weiterem Sinne wird jede Form des Massenverlustes von Gletschern, d.h. auch durch Kalbung, Winddrift, Verdunstung, Sublimation oder abgehende Eis- oder Schneelawinen im System des Massenhaushalts der Gletscher als Ablation bezeichnet. Die Ablationsperiode ist der Zeitraum im Jahr, in dem Ablation stattfindet.

[3] Als Isotope bezeichnet man Arten von Atomen, deren Atomkerne gleich viele Protonen (gleiche Ordnungszahl), aber verschieden viele Neutronen enthalten. Die Elemente verhalten sich chemisch identisch, haben aber ein unterschiedliches Gewicht und lassen sich dadurch mit physikalischen Methoden analytisch unterscheiden.

[4] Dansgaard-Oeschger-Ereignisse (kurz: DO-Ereignisse) sind rasante Klimaschwankungen während der letzten Kaltzeit. 23 solcher Ereignisse wurden zwischen 110.000 und 23.000 BP [before present = Bezugspunkt der Radiodatierung gilt gerechnet ab 1950 ] gefunden. Dansgaard-Oeschger-Ereignisse sind nach Willi Dansgaard und Hans Oeschger benannt. In der nördlichen Hemisphäre stellen sie sich als Perioden schneller Erwärmung, gefolgt von einer langsamen Abkühlung, dar. Der Vorgang spielt sich über einen längeren Zeitraum ab, der typischerweise auf Skalen von Jahrhunderten beschrieben wird. Auf der Südhalbkugel konnte man solche Ereignisse nicht nachweisen. Mehr dazu finden Sie in einem Artikel von Stephen Barker and Gregor Knorr in der Fachzeitschrift PNAS: "Antarctic climate signature in the Greenland ice core record"
http://www.pnas.org/content/104/44/17278.full.pdf?sid=b0c41459-349f-4041-b8c1-3887cd373471

Auf Nachfrage ergänzte Prof. Eisen, dass eine Studie des EPICA-Projekts 2006, an dem auch das Alfred-Wegener-Institut beteiligt ist, keine Dansgard-Oeschger-Ereignisse in der Antarktis bestätigen konnte, aber doch eine direkte Korrelation in der physikalisch-chemischen Auswertung von Eiskernen, zwischen den D-O-Ereignissen in Grönland und sämtlichen Wärmeereignissen in der Antarktis erkennen kann.
http://epic.awi.de/33179/

Bisher sind zur Recherche-Reise der DPG nach Bremerhaven im Schattenblick unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT erschienen:

BERICHT/118: Forschung, Klima und polar - Hautkontakt und Daten ... (SB)
INTERVIEW/225: Forschung, Klima und polar - Launen, Ströme, nackte Zahlen ...    Prof. Monika Rhein im Gespräch (SB)
INTERVIEW/226: Forschung, Klima und polar - Eisschmelze ...    Prof. Torsten Kanzow im Gespräch (SB)
INTERVIEW/233: Forschung, Klima und polar - Vorbild maritim auf Kurs ...    Polarsternkapitän Thomas Wunderlich im Gespräch (SB)

12. Juli 2016


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