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INTERVIEW/253: Gemessen essen - es gibt kein gesundes Leben im Fett ...    Prof. Dr. Helmut Heseker im Gespräch (SB)


DGE-Journalisten Seminar am 1. Februar 2017 im Universitätsclub Bonn
Besseres Essen für alle: Welchen Beitrag leisten die DGE-Qualitätsstandards? - Ergebnisse des 13. DGE-Ernährungsberichts

Prof. Dr. Helmut Heseker über die Schwierigkeiten, energiearmer und damit besserer Ernährung eine breitere Plattform zu verschaffen ...


Am 31. Januar 2017 überreichten die DGE-Präsidentin Prof. Ulrike Arens-Azevêdo, Chefredakteur Dr. Peter Stehle und Geschäftsführer Dr. Helmut Oberritter den 13. DGE-Ernährungsbericht, den die DGE im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft erarbeitet hat, an Bundesernährungsminister Christian Schmidt. Am darauffolgenden Tag stellten sie die Studie gemeinsam mit den Kapitelautoren einer Anzahl von Medien- und Pressevertretern vor.

Wenig scheint sich seit dem letzten Resümee zur Ernährungssituation in Deutschland geändert zu haben. Es herrscht kein Mangel an Nahrung, Nährstoffen oder Vitaminen. Immer mehr Menschen zeigen ein deutliches Interesse an bewußter und möglichst gesunder Ernährung. Und doch ist die Zahl der Übergewichtigen und Adipös-Kranken, die unter den Berufstätigen bereits die Mehrheit vertreten, noch nie so groß wie heute gewesen. Die leichte Verfügbarkeit und das breite Angebot von besonders ansprechender, hochkalorischer Nahrung mache es schwer, normalgewichtig zu bleiben, sorgte sich Prof. Heseker in seinem Vortrag. Übergewicht und die damit verbundenen gesundheitlichen Folgen und Komplikationen gelten als zentrales gesellschaftliches Problem. Er machte in diesem Zusammenhang erstmals auch den Trend, Kinder in einer späteren Lebensphase zu gebären, für diese Entwicklung verantwortlich. Ältere, übergewichtige Schwangere riskieren danach nicht nur ein erhöhtes Risiko für Schwangerschaftsdiabetes und Bluthochdruck, sondern verkomplizieren damit auch die Geburt. Mit dem Fazit, Prävention fange schon im Mutterleib an - mit dem angemessenen Körpergewicht der Schwangeren - und müsse sich dann über alle Altersgruppen und gesellschaftlichen Schichten ziehen, wurde vom DGE allerdings auch eine gesellschaftlich sicher in Frage zu stellende Schuldzuweisung an die Mütter deutlich. Sie geben ihren Kindern nicht nur einen mehr oder weniger guten Start ins Leben, sondern tragen letztlich auch die gesamte Last der Verantwortung für den ernährungsbedingten Verlauf ihres weiteren Lebens.

Diese eindeutige Positionierung des DGE wird jedoch immer wieder von Studien in Frage gestellt, die gerade Übergewichtigen eine längere Lebenserwartung zusprechen. Zudem können auch weitere Faktoren aus anderen Wissenschaftsbereichen, etwa der Umweltforschung, eine Rolle spielen. So wurde unlängst die zunehmende Feinstaubbelastung [1] mit der Entstehung von Stoffwechselerkrankungen, Diabetes und auch Übergewicht in Verbindung gebracht.


Saftig Gebratenes in der Wanne eines Selbstbedienungsrestaurants - Foto: by Tania Timpone gemeinfrei nur via titania-foto.com

All-you-can-eat-Restaurants verleiten dazu, viel zu viel des Guten zu essen.
Foto: by Tania Timpone gemeinfrei nur via titania-foto.com

Prof. Helmut Heseker ist seit 1997 Professor für Ernährungswissenschaft an der Universität Paderborn und Leiter der Fachgruppe: Ernährung und Gesundheit. Von 2013 bis 2016 war er der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). Im Rahmen der Veranstaltung stellte er anhand von zwei Schwerpunkt-Vorträgen seine Analyse des aktuellen Ernährungsverhaltens in Deutschland vor: Abgesehen vom Problem der zu großen Energiedichte in den Lebensmitteln, die pro Mahlzeit verzehrt werden, gab es noch nie so viele neue "Life-style"-Produkte, die "frei von" Gluten, Fructose, Lactose oder auch von Fleisch sein sollen und mit einer besseren und vor allem gesünderen Ernährung verwechselt werden - ein Ideal, dem sie keineswegs gerecht werden. Statt dessen weisen einige dieser Produkte, etwa diätetische proteinreiche "low-carb"- oder auch vegane Lebensmittel ebenfalls eine hohe Energiedichte und einen Fettgehalt auf, der dem gegenwärtigen Trend der Ernährungsberatung zuwider läuft. Frei-von-Kalorien-Erzeugnisse sucht man dagegen noch vergeblich in den Lebensmittelregalen.

Während der Fragerunde hatte der Schattenblick Gelegenheit, Prof. Heseker einige Fragen zu stellen, die er freundlicherweise nach der Veranstaltung schriftlich ergänzte.


Im Vortrag - Foto: © 2017 by Schattenblick

Prof. Dr. Helmut Heseker
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Inwiefern ist gesichert, dass Adipositas nur mit Ernährung zu korrelieren ist? Könnten nicht auch andere Faktoren wie Arbeitsstress oder Umwelteinflüsse zu dem Ergebnis führen, dass ein Mensch an Gewicht zunimmt?

Prof. Dr. Helmut Heseker (HH): Es ist ganz einfach. Ursache ist immer eine positive Energiebilanz, ob diese auf das überall verfügbare, preiswerte Angebot von schmackhaften und energiereichen Lebensmitteln zurückzuführen ist, oder auf unseren sitzenden Lebensstil, ob beides zusammentrifft, oder ob Menschen im Dauerstress dazu neigen, mehr zu essen als ihnen auf Dauer gut tut. Heute werden oftmals Dutzende von weiteren Faktoren ins Spiel gebracht. Das lenkt aber von der eigentlichen Problematik ab. So wird gern das Mikrobiom [hier: die mikrobielle Besiedlung des Verdauungstrakts] vorgeschoben oder spezifische Gene werden für unsere Körperfülle verantwortlich gemacht. Es sollte nicht vergessen werden, dass es zahlreiche interessengeleitete Gruppen gibt, die gern von der Ernährung als Mitverursacher von Übergewicht und Adipositas ablenken, wie z.B. die einschlägigen Lobbyisten oder dicke Geschäfte witternde Buchautoren.

SB: Eigentlich kennt man den ursächlichen Zusammenhang zwischen Gewichtszunahme und Nahrungszufuhr doch schon lange. Dennoch nimmt der Körperumfang der Menschen unserer zivilisierten Welt allgemein eher zu als ab. Wie kommt es, dass die ernährungswissenschaftlichen Erkenntnisse und Empfehlungen so wenig von der Bevölkerung berücksichtigt werden? Wenn - wie Sie soeben sagten - es keine weiteren Ursachen dafür gibt, hat dann die Ernährungsberatung versagt? Waren die Bemühungen bisher noch nicht ausreichend?

HH: Der Einfluss, den die Ernährungsberatung und -aufklärung auf das Verhalten der Bevölkerung ausübt, ist leider sehr gering gegenüber dem mit Milliarden an Werbeausgaben geförderten der Lebensmittelindustrie. Es sind die technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die dazu geführt haben, dass wir heute in einer Informationsgesellschaft leben, mit vielen körperlich passiven Freizeitbeschäftigungen. Auch die körperlichen Aktivitäten in fast allen Berufen haben dank technischer Entwicklungen abgenommen. Wir haben gegenüber unserem Institut eine riesige Baustelle. Keiner der Bauarbeiter dort arbeitet wirklich körperlich. Der Kran wird mittels Fernbedienung bewegt. Es gibt für fast alles entsprechende Maschinen, die mit wenigen Knopfdrücken gesteuert werden müssen. Kaum noch ein Beruf, der mit einem hohen Kalorienbedarf einhergeht. Wir haben aber die Ernährung beibehalten, die für unsere Vorfahren als Holzfäller, schwer arbeitende Bauern, Maurer, Zimmerleute, Bergmänner hervorragend geeignet war, um sie mit ausreichend Kalorien zu versorgen. Für Menschen in der Informationsgesellschaft ist das aber viel zu viel.

Ein weiteres Problem sind die vielen energiedichten, sehr schmackhaften Lebensmittel, die heute überall und noch dazu sehr preiswert angeboten werden. Wenn wir davon nur so viel essen, dass unser Energiebedarf gedeckt ist, dann füllen diese energiedichten Lebensmittel unseren Magen nicht gut. Und Magenfüllung ist sehr wichtig, um sich wohlig satt zu fühlen.

Kurz gesagt, es sind einfach die falschen Lebensmittel, mit denen wir unsere Mägen füllen. Wir sollten also unsere Mahlzeiten anders zusammenstellen, als dies bisher häufig gemacht wird: also nicht ein großes paniertes Schnitzel, sondern eher einen großen Salat- oder Gemüseteller mit vielleicht etwas Fleisch, Fisch oder auch Ei als Beilage sowie eine energieärmere Kohlenhydratquelle, wie zum Beispiel die gute alte Salzkartoffel. Dies erfordert jedoch ein grundsätzliches Umdenken. Unsere traditionelle Art der Ernährung hat sich im Laufe von Generationen entwickelt; da ist es nicht so einfach, sich von heute auf morgen umzugewöhnen.

SB: Neben den Mainstream-Tendenzen, die Sie in Ihrem Vortrag verdeutlicht haben, sind aber immer wieder Menschen, die an Essstörungen wie Bulimie leiden, in der medizinischen Diskussion, die sich aus einem falsch verstandenen Gesundheits- und Schlankheitsideal generieren. Auf der anderen Seite gibt es auch viele Menschen, die sich um ein paar Pfunde weniger bemühen und es trotz strenger Diät nicht schaffen. Beides scheint nicht sehr förderlich zu sein, was das körperliche Wohlbefinden angeht, sondern eher stressreich und frustrierend. Inwieweit werden in den Studien der DGE auch alternative Theorien, Hypothesen oder Studien berücksichtigt, die diese lineare Abhängigkeit von Energiezufuhr, körperlicher Bewegung und Gewichtszunahme in Frage stellen könnten und vielleicht auch individuelle Stoffwechselausprägungen mitberücksichtigen?

HH: Von alternativen Fakten halte ich nicht viel!

SB: Gibt es möglicherweise noch andere Gründe, die eine Gewöhnung an eine energiearme Kost erforderlich machen könnten? Zeichnet sich zum Beispiel im Zuge des Klimawandels oder der zunehmenden Weltbevölkerung bereits jetzt ein Mangel ab, der einen sparsameren Umgang mit Nahrungsressourcen empfehlenswert erscheinen lässt?

HH: Wir brauchen keine energiearme Kost, sondern eine Kostform die besser an unseren verminderten Energieverbrauch angepasst ist. Eine Kost, die gut schmeckt, den Magen gut füllt, aber nicht zu viele Kalorien liefert.

SB: Der Ethikrat diskutierte unlängst im Zusammenhang mit der nachhaltigeren Verwendung von Antibiotika die Frage, was dem Patienten als fremdbestimmte Maßnahmen seiner eigenen Gesundheit zuliebe zugemutet werden darf. Könnten Sie sich vorstellen, dass ähnliche Überlegungen auch in den Ernährungsfachgesellschaften oder in der Politik angestellt werden, um eine "bessere Ernährung für alle" sicherzustellen? Gibt es möglicherweise bald Umstände, die es erforderlich machen, Ihre Empfehlungen administrativ durchzusetzen?

HH: Ich sehe im Moment keinen politischen Willen, restriktivere Maßnahmen zu ergreifen. Paternalismus und Bevormundung ist genau das, was in der derzeitigen politischen Situation bei Wählerinnen und Wählern nicht gut ankommt.

SB: Wäre die im Januar auf der Grünen Woche in Berlin kontrovers diskutierte Zuckersteuer bereits ein Schritt in diese Richtung?

HH: Steuern zur Verteuerung von Lebensmitteln mit ungünstigen gesundheitlichen Eigenschaften sind - wie das Beispiel der Alco-Pop-Steuer und wie es auch das dänische Beispiel gezeigt haben - interessante erfolgversprechende Instrumente. Vielleicht stoßen sie in der Bevölkerung auf mehr Akzeptanz, wenn die Steuermehreinnahmen zur Preissenkung von Gemüse und Salat oder zur Verbesserung des Schulsports eingesetzt werden.

SB: Unlängst hat die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung einen neuen Ableger, das neue Bundeszentrum für Ernährung, BZfE, hervorgebracht. Wird die DGE weiterhin der Hauptansprechpartner der Regierung in Ernährungsfragen bleiben oder wird das neue Zentrum an ihre Stelle treten?

HH: Die BZfE wird als Bundesbehörde unter anderem die Aufgaben des aufgelösten "aid infodienst" [aid = Agrar Informationsdienst, Informationsanbieter rund um Landwirtschaft, Lebensmittel und Ernährung; Anm. d. SB-Red.] übernehmen und sich weiterhin in erster Linie an Endverbraucher richten - auf dem Boden der von der DGE erarbeiten nährstoff- und lebensmittelbasierten Empfehlungen. Zielgruppe der DGE sind in erster Linie Multiplikatoren. Es wird die bewährte Arbeitsteilung zwischen BZfE und DGE fortgesetzt.

SB: Es gibt sehr viele Einrichtungen, die sich die Verbesserung der Ernährung bzw. des Ernährungsverhaltens auf die Agenda geschrieben haben. Allein in der FENS (Federation of the European Nutrition Societies), der Herr Boeing vorsteht, sind 26 europäische Ernährungsfachgesellschaften organisiert. Gibt es eigentlich eine allgemein gültige Ausrichtung, was man mit einer "gesunden Ernährung", mit "besserem Essen" oder "richtigem Ernährungsverhalten" erreichen will? Oder setzen die verschiedenen Organisationen oder Institutionen unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte?

HH: Überall dort, wo die Prinzipien der Evidence-based-Nutrition [nach den EbN-Leitlinien erkenntnisgestützter Ernährung; Anm. d. SB-Red.] die Grundlage der Ableitung von lebensmittelbasierten Empfehlungen sind, kommen Ernährungsfachgesellschaften zu sehr ähnlichen Bewertungen von Zusammenhängen zwischen Ernährung und Gesundheit und zu vergleichbaren Empfehlungen.

Dort, wo man sich allerdings mehr auf Einzelstudien und auf alternative Fakten verlässt, wird man es immer wieder mit widersprüchlichen Empfehlungen zu tun haben, die zur weiteren Verunsicherung der Bevölkerung beitragen. Bereits heute wird von interessengeleiteten Gruppen gezielt die Strategie der Widersprüchlichkeit eingesetzt, denn Menschen, die Zusammenhänge zwischen Ernährung und Gesundheit für widersprüchlich erachten, werden ihre derzeitigen Ernährungsgewohnheiten nicht ändern und weiterhin auf süße, fett- und kochsalzreiche Produkte zurückgreifen - ganz im Sinne der Produzenten und deren Lobbyisten.

SB: Vielen Dank, Herr Prof. Heseker.


Anmerkung:

[1] http://news.doccheck.com/de/163565/feinstaub-diabetes-liegt-in-der-luft/

8. Februar 2017


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