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INTERVIEW/264: Die Säge und der eigene Ast - alte Werte ...     Dr. Gesche Krause im Gespräch (SB)



Seit Urzeiten besteht zwischen Meer und Menschen, von denen weltweit etwa 40 Prozent weniger als 100 Kilometer von einer Küste entfernt leben, eine widerspruchsvolle Beziehung. Einerseits ist der "blaue Kontinent" der spirituelle Mittelpunkt für pazifische Inselvölker und viele indigene Küstenbewohner. Andererseits trägt es als Lebensraum dazu bei, Armut zu bekämpfen, der Erwärmung der Erde vorzubeugen, Sauerstoff zu produzieren und die Bedürfnisse der Erdbevölkerung nach Nahrung, Rohstoffen, Energie, Erholung, Transportwegen zu bedienen und Platz für die Entsorgung ihres anfallenden Abfalls zu schaffen. Für all diese Zwecke werden Meere genutzt und zunehmend mißbraucht. Sollte hier kein Umdenken stattfinden, könnte jüngsten Schätzungen zufolge bis 2050 mehr Plastikmüll als Fisch in den Weltmeeren schwimmen, die Meere für kalkskellettbildende Meeresbewohner wie Korallen, Schwämme und Seeigel zu sauer werden und zudem leergegessen sein. Für jene, deren Lebensgrundlage ausschließlich das Meer ist, gibt es allerdings keinen Plan B. Ihr Leben und ihre Existenz hängt vom Meer ebenso ab, wie dessen Überleben von den künftigen Entscheidungen der Menschheit.

Möglicherweise deshalb hatte man bei der von der Union der Akademie der Wissenschaften gemeinsam mit SAPEA veranstalteten Podiumsdiskussion "Nahrungsquelle Meer - Entwicklungen, Gefährdungen, Prognosen" am 5. Oktober nach Hamburg auch die weitgereiste Küstengeografin und Sozialwissenschaftlerin Dr. Gesche Krause eingeladen, welche die Erforschung des Meeres und auch die aktuellen Probleme seit ihrer Kindheit immer unter der Fragestellung betrachtet, inwieweit die dort lebenden Menschen davon betroffen sind.


Seegras - Foto: 2007 by Colin Faulkingham (gemeinfrei)

Meeresressourcen oder 'Wimpern des Ozeans'.
Die kommerzielle Nutzung von Seegras, z.B. für Biogasanlagen ist möglicherweise nur eine Frage der Zeit.
Foto: 2007 by Colin Faulkingham (gemeinfrei)

Während sie 14 Jahre die geowissenschaftliche Forschung am Zentrum für Tropische Meeresforschung (ZMT) in Bremen begleitete, nahm sie unter anderem an einem 10jährigen Forschungsprogramm zu Mangrovendynamik und -management in Nord-Brasilien teil. Das "SPICE"-Projekt ("Science for the Protection of Indonesian Coastal Marine Ecosystems") brachte sie zudem nach Süd-Sulawesi, Indonesien. Dort befaßte sie sich unter anderem mit der Überfischung und Bombenfischerei sowie deren Auswirkungen auf die Gesellschaft, insbesondere auf die Bevölkerungen der Koralleninseln Spermonde Archipels vor Makassar. Heute arbeitet sie als einzige Soziologin am Alfred Wegener Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven und leitet ehrenamtlich im Rat für Meeresforschung (ICES) die Arbeitsgruppe "Soziale und wirtschaftliche Dimensionen der Aquakultur" (WGSEDA). Eine Zeit lang war sie auch als Projektentwicklerin in der Windenergiebranche bei PNE Wind AG, sowie im Rahmen einer Umweltverträglichkeitsprüfung für den Europipe II (STATOIL) bei BioConsult, Bremen.

Die Wissenschaftlerin stellte sich im Anschluß an die Diskussion dem Schattenblick für weitere Fragen zur Verfügung.


Dr. Gesche Krause (AWI) - Foto: © 2017 by Schattenblick

Leider vergessen viele Menschen, daß sie, wenn sie das Umweltsystem auf eine nicht nachhaltige Weise nutzen, sich letztendlich selber schaden.
Dr. Gesche Krause (AWI) während der Podiumsdiskussion.
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Sie würden sich der Frage verpflichtet fühlen, hieß es in einem Porträt der Helmholtz Gemeinschaft, wie die Menschheit die natürlichen Ressourcen der Erde gleichzeitig nutzen und bewahren kann. Wenn man aber die Nutzung der potentiellen Güter, die das Meer zur Ernährung oder auch zur Befriedigung anderer Interessen enthält, ernsthaft verfolgt, schließt man damit nicht das Bewahren bereits aus?

Dr. Gesche Krause (GK): Nicht, wenn man sich als Mensch als Teil des gesamten Systems sieht, womit man in meinem Verständnis durch die Verantwortung für sich selbst auch seine natürliche Umwelt in diese Verantwortung einschließt. Leider vergessen viele Menschen, daß sie, wenn sie das Umweltsystem auf eine nicht nachhaltige Weise nutzen, sich letztendlich selber schaden. Das ist eine eher philosophische Antwort auf Ihre Frage.

SB: Wenn ich Sie richtig verstehe, sehen Sie keinen Widerspruch zwischen Nutzen und Bewahren. In der Praxis läßt sich aber immer nur ein "Mehr" auf der einen Seite zu Lasten oder zum Schaden der anderen erkennen. Selbst wenn man nur kranke oder bereits gestorbene Fische essen würde, müßte man Schaden auf der Nutzerseite in Kauf nehmen, denn schlechten Fisch zu essen, wäre nicht gesund. Wie würden Sie Ihre philosophische Antwort praktisch durchsetzen oder welche Seite sollte, wenn Sie den Gedanken zulassen, letztlich die größeren Kompromisse eingehen?

GK: Das kann man gar nicht so einfach beantworten, da es sehr stark vom persönlichen Umfeld abhängig ist. Ich habe lange Jahre in Brasilien und in Indonesien gelebt und gearbeitet. Dadurch wurde mir vor allem klar, was für eine privilegierte Luxus-Situation für uns in Europa besteht, daß wir uns über diese Dinge und Optionen überhaupt Gedanken machen dürfen.

Es geht uns materiell so gut, daß wir aus dem gut gefüllten Kühlregal im Supermarkt tagtäglich auswählen dürfen, ob wir Fisch, Fleisch oder Gemüse essen, mit der Gewißheit, daß auch morgen noch etwas da sein wird. Das ist in vielen anderen Ländern nicht selbstverständlich und daher ist es schwierig, zu einer allgemeingültigen Aussage zu Ihrer Frage zu kommen. Ich würde es mir sehr wünschen, daß den Leuten hier in Europa ihre exklusive Lebenssituation wesentlich stärker bewußt werden würde, welche sie in die privilegierte Lage versetzt, die Naturseite besser schützen zu können. Für die Entwicklungsländer würde ich mir dagegen wünschen, daß von hier aus wesentlich mehr für die menschliche Nutzerseite getan wird, damit es den Menschen dort besser geht. Es ist von daher auch wieder eine etwas philosophische Herangehensweise an die Frage, denn man kann meines Erachtens nicht sagen, die Natur verliert immer. Im Grunde unseres Herzens sollte jeder wissen, daß die Natur uns trägt und wir daher die Pflicht haben, diese in unserem ureigenen Interesse heraus zu bewahren.

SB: Wie kommt es eigentlich, daß zunehmend von "natürlichen Ressourcen des Meeres" oder auch von Nahrungsressourcen gesprochen wird, wenn eigentlich "Fische" gemeint sind? Soll damit der Raub versachlicht oder verschleiert werden?

GK: Eine Ressource nennen wir eine Aktivität, die man in Gang setzt, um etwas zu bekommen. Fische haben nun mal keine Stimme, wie in der Podiumsdiskussion ganz richtig behauptet wurde. Sie schwimmen im Meer herum, ob Menschen da sind oder nicht. Es ist somit unser Bedarf nach Nahrung, der sie zu einer Ressource werden läßt. Deswegen kommt man bei Fisch automatisch auf den naheliegenden Ressourcenbegriff, weil wir selbst aktiv werden und ins Meer gehen müssen, um ihn zu fangen.

SB: Um noch ein bißchen bei den Fisch-Ressourcen oder -beständen zu bleiben, deren Umfang - wie in der Diskussion vorhin deutlich wurde - je nach Standpunkt ganz unterschiedlich eingeschätzt wird. Kann man angesichts von 80 Millionen Tonnen Fisch, die weltweit pro Jahr gefangen werden, während der verbleibende Rest durch Müll, Umweltchemikalien, Öl oder strahlende Radionuklide bedroht, krank oder vernichtet wird, überhaupt noch von nennenswerten "Nahrungs-Ressourcen" sprechen? Und sollte man die Fische, die es überhaupt noch gibt, nicht einfach im Meer lassen?

GK: Ich glaube, Sie zielen hier noch einmal auf den Gesundheitsaspekt ab, auf den ja auch schon in der Podiumsdiskussion kurz eingegangen wurde. Wenn man sich vergleichsweise dazu einmal die Schadstoffe betrachtet, mit denen Schweine-, Rind- oder Hühnerfleisch aus terrestrischer Produktion belastet sind, dann sprechen wir von ganz anderen, geringeren, Schadstoff-Dimensionen. Daß so viel von dem stark belasteten Fisch gesprochen wird, ärgert mich daher zwar im ersten Moment immer. Jedoch freut es mich auch, denn das zeigt doch, daß den meisten Menschen offenbar sehr bewußt zu sein scheint, daß es um eine sehr fragile Ressource geht, die wir schützen müssen. Es wäre wünschenswert, wenn wir aus den Fehlern, die wir bislang terrestrischen Systemen zugemutet haben, lernen, so daß sich die gleichen Muster in der Meeresnutzung nicht noch einmal wiederholen.

SB: Ich hatte weniger an den bewußten Einsatz von Medikamenten und Antibiotika gedacht, die bei der Tiermast verwendet werden, um die Fleischproduktion anzukurbeln, als an die Bedrohung des im Meer lebenden "Wildtieres" einerseits durch die Gier des Menschen nach Fischfleisch, andererseits auch durch die zunehmende Einschränkung oder Verseuchung seines Lebensraums ebenfalls durch den Menschen. Steigt das Thermometer um weitere vier Grad, das wurde unlängst gesagt, wird der Klimawandel ein weltweites Fischsterben auslösen. Wir beschallen die Meere aber auch mit Maschinen aller Art. Radioaktive Stoffe, Gifte und der in letzter Zeit viel erwähnte Plastikmüll sind offenbar nur die Spitze des Eisbergs, mit denen wir den Fisch mitsamt seinem Lebensraum vernichten. Und es gibt durchaus Fischexperten, die bereits jetzt von leergegessenen Meeren sprechen.

GK: Genau. Gerade was die Mikroplastikproblematik betrifft, stehen wir tatsächlich noch sehr weit am Anfang des Verständnisses. Das AWI engagiert sich hier mit einigen Projekten. Ich hatte ja bereits vorhin die Litterbase-Seite des AWI (http://litterbase.awi.ðde/) erwähnt, die wir online gestellt haben. Darin werden sämtliche Plastikmüllvorkommnisse im Meer aufgenommen. Darüber hinaus gibt es auch weitere Einflüsse, deren Wirkung auf den Fisch wir wissenschaftlich noch nicht erkannt haben oder verstehen. - Was Sie erwähnten, betrifft im übrigen auch das ganze Spektrum an Strahlungen. Hierzu gibt es beispielsweise nach meiner Kenntnis nur wenige Untersuchungen oder Studien über die Strahlungseffekte von Kabeln, die im Meer verlegt wurden und den davon ausgehenden Elektrosmog auf so sensible Arten wie den Hai.

SB: Sie sind an ein Projekt zur nachhaltigen Aquakultur, d.h. zur umweltverträglichen Fischzucht im natürlichen Lebensraum der Fische in Neuseeland beteiligt, das von der EU gefördert wird. Könnten Sie unseren Lesern kurz erläutern, welche Erwartungen Sie insbesondere an dieses Projekt knüpfen?

GK: Das Interessante an diesem Projekt ist die Einbindung des indigenen Wissens in den modernen Wissenschaftsansatz. Hierbei haben sich Wissenschaftler mit ihren aktuellen Erkenntnissen aus der Technologie und Biologie mit Vertretern von Maoristämmen, die über ganz andere Wissenssysteme verfügen, zusammengesetzt und versucht, gemeinsam ein multitrophisches System zu entwickeln, was dem Anspruch der Nachhaltigkeit gerecht wird. Es sollte gleichzeitig den kulturellen Bedingungen und Wünschen der Maori Rechnung tragen, was in erster Linie die Zucht von anderen Arten als die klassischen Lachs- und Muschelvarianten beinhaltet. Zudem wird erforscht, inwieweit sich die verschiedenen Wissenssysteme kombinieren lassen. Ich habe das Projekt wissenschaftlich vor allem von der sozialwissenschaftlichen Seite der Wissensgenerierung begleitet.


Moderne Maori in einem traditionellen 'Maori Waka' (Boot) - Foto: QFSE Media als CC-BY-3.0-nz [http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/nz/deed.en], via Wikimedia Commons

Traditionelles Herkunfts- und Umweltbewußtsein.
'Bis heute weiß jeder Maori genau, wann er, in welchem Kanu und mit welcher Gruppe nach Neuseeland gekommen ist.' (Gesche Krause)
Foto: QFSE Media als CC-BY-3.0-nz
[http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/nz/deed.en], via Wikimedia Commons

SB: Würden Sie sagen, daß die Maori eine andere Beziehung zu den Fischen und ihrem Verhalten haben, als die Menschen hierzulande?

GK: Ja, auch wenn das nicht einfach zu erklären ist, zumal ich ihre Herangehensweise selbst noch nicht ganz durchdringe. Die Maoris haben eine eigene Sicht auf das Leben, in der alles, was noch in der Zukunft vor einem liegt, auch Vergangenheit ist. Und die Vergangenheit ist Zukunft. Das heißt, all das, was ich rückwärtsgewandt betrachte, sehe ich gewissermaßen aus der Perspektive der Zukunft. Weil das, was ich da gemacht habe, meinen Weg, auf dem ich weitergehen will, bestimmt. Wenn man einen Maori fragt: 'Wie würdest Du dieses System beschreiben?', dann wird er mit seiner Schilderung bei etwas beginnen, was schon sein Vorfahr vor 250 Jahren getan hat. Die Geschichte ihrer Ahnen tragen sie weiter in ihren aktuellen kulturellen Identitätsdiskurs hinein. So weiß jeder Maori noch genau, wann er in welchem Kanu und mit welcher Gruppe nach Neuseeland gekommen ist und von welchem Berg oder Fluß er abstammt. Und diese Herkunft wird auch bei jeder Vorstellung dem eigenen Namen vorangestellt. Dadurch, daß er Berg, Kanu, Fluß und Stamm benennt, wissen alle anderen Maoristämme exakt, in welchem ökologischen System dieser Mensch groß geworden ist und woraus sein (Umwelt-)Gedächtnis entstammt. Das ist für mich eine ganz faszinierende Auffassung von Umwelt und Wahrnehmung. In Neuseeland besteht derzeit auf politischer Ebene ein großes Interesse daran, dieses Wissen mit dem westlich dominierten Wissenssystem zu verbinden. Dieses Projekt ist quasi ein erster Schritt in diese Richtung.

SB: Könnte man tatsächlich sagen, daß die Maori ein ganz anderes Verhältnis oder Verständnis zur Individualität haben? Definieren sie sich im Gegensatz zu uns nicht als Individuen?

GK: Ja, die Maori haben sich seit jeher sehr stark als Gruppe mit einer Zugehörigkeit zum jeweiligen Berg, Kanu und Fluss identifiziert. Aber ich bin kein Maori-Experte. Ich gebe nur das weiter, was ich selbst über die letzten Monate beziehungsweise die letzten anderthalb Jahre verstanden und mitbekommen habe.

SB: Hat diese Zusammenarbeit auch Ihre eigene wissenschaftliche Herangehensweise verändert oder beeinflußt? Sie betonten eingangs den philosophischen Zugang, mit dem Sie an diese Problematiken herangehen. Was Sie eingangs über die Verantwortung für das gesamte System sagten, erinnert mich an diese Sicht der Maori, den Weg ihrer Nachkommen bereits durch eigenes Handeln vorzuzeichnen.

GK: Ja, sicherlich, darin wurde ich durch diesen Kontakt noch einmal sehr bestärkt. Aber ähnliche Erfahrungen habe ich auch in den zehn Jahren gesammelt, in denen ich im brasilianischen Amazonien gearbeitet habe. Wenn man so wie ich als "kluger" Westeuropäer in diese Welt eindringt, stößt man, wenn man den Auftrag unserer Gesellschaft an uns Wissenschaftler - nachzudenken, Wissen zu generieren und weiterzugeben - ernst nimmt, schnell an seine Grenzen. Nur wenn man sich selbst zurücknimmt und einfach nur zuhört und fragt, was für Bedürfnisse es dort eigentlich gibt, kann man davon sprechen, daß man beginnt, in diesem Sinne einen ganz essentiellen Teil dieser wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Verpflichtung auch zu realisieren. Wir als Wissenschaftler haben eine hohe Verantwortung unserer Gesellschaft gegenüber und die ist gar nicht so abstrakt. Ich hatte das Glück, daß ich mich teilweise wirklich mit sehr armen Menschen zusammensetzen und dadurch sehr viel lernen konnte. Wenn man dann in so einer Situation sein Wissen weitergeben kann und dabei gleichzeitig auch etwas zurückgespiegelt bekommt, dann lernt man oft zu verstehen, an welchen Stellen es in unseren westlichen Systemen hakt, warum manches nicht so funktioniert, wie es sollte, und beginnt, das eigene Wissen oder die eigene Meinung noch mal neu zu überdenken und so weiter. All das gehört meines Erachtens zu dem großen Thema Verantwortung.

SB: Sie waren 10 Jahre in einem Projekt in Amazonien involviert und haben schon in Ihrer Kindheit und Jugend verschiedene indigene Lebensformen kennengelernt, die vom Fischfang leben. Gibt es eine Technik oder Lebensweise, die Sie persönlich für nachahmenswert bzw. nachhaltig genug erachten und die sich tatsächlich auf die Fischerei und den Fischkonsum in den europäischen Ländern übertragen ließe?

GK: Das ist schwierig. In vielen Systemen, in denen ich gearbeitet habe, ging es letztendlich einfach immer nur ums menschliche Überleben. Dafür versucht man möglichst effiziente Techniken zu entwickeln, mit denen man schnell Erfolg hat. In Indonesien resultiert das leider in der Anwendung von (auf der staatlicher Ebene verbotenen) Bomben- oder Dynamitfischerei. Diese Methode ist wohl die unnachhaltigste, die man sich vorstellen kann.

Gut gefallen hat mir allerdings eine lokale Maßnahme in Brasilien, bei der man händisch Mangrovenkrabben fängt. Dort hatte man sich zur Regel gemacht, nur männliche Mangrovenkrabben zu fangen, die zudem eine bestimmte Größe erreicht haben mußten. Das machte tatsächlich ökologisch auch nach westlichen Maßstäben Sinn, denn wenn die Krabben größer als acht Zentimeter waren, konnte man davon ausgehen, daß sie sich bereits drei oder vier mal reproduziert hatten. Weibchen wurden dagegen grundsätzlich nicht gefangen.


Eine Mangrovenkrabbe Ucides cordatus cordatus (L.) beim Aufsammeln eines Blattes, Nordbrasilien - Foto: by Umehlig (Own work) als CC BY-SA 2.5 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5], via Wikimedia Commons

Mangrovenkrabben lassen sich nicht gerne fangen. In Brasilien bekommen Krabbenfischer großen Ärger, wenn sie weibliche oder zu junge Krabben auf den Markt bringen.
Foto: by Umehlig (Own work) als CC BY-SA 2.5 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5], via Wikimedia Commons

Ich finde diese lokal entwickelte Regelung sehr nachahmenswert, auch wenn das System momentan durch globale Einflüsse wie Welthandel und Nachfrage sowie Bevölkerungswachstum unter Druck zu geraten droht. Doch in den zehn Jahren, in denen wir im Rahmen unseres Projektes die Fangtechnik begleitet haben, wurde bemerkenswert konsequent nach diesem Prinzip vorgegangen. Das fand ich toll. Zudem wurden die lebenden Krabben öffentlich auf den Markt gebracht, so daß es sofort auffiel, wenn mal ein Weibchen dazwischen geraten war. Dann bekam der Mangrovenkrabbenfänger Ärger. Es gab also so etwas wie eine soziale Kontrolle in diesem Fangkonzept, was mir sehr imponiert hat.

SB: Sie beschreiben das so anschaulich. Haben Sie während Ihrer Studie auch selbst nach diesen Krabben gefischt?

GK: Oh ja, das ist richtig harte Arbeit. Man hängt bis zur Hüfte im Schlamm, hält sich dann mit einer Hand an den Mangrovenwurzeln fest und versucht mit der anderen Hand in den Bau der Krabben zu gelangen. Oftmals sind die Tiere so weit drin versteckt, daß man noch einen Stock oder einen Haken zur Hilfe nehmen muß, den die Krabben reflexartig angreifen und damit kann man sie dann herausziehen. Die Tiere sind aber verdammt aggressiv und es tut höllisch weh, wenn sie einen direkt an der Hand zu fassen kriegen.

SB: Sie sind ja bereits vorhin auf dem Podium gefragt worden, was Sie persönlich am liebsten als nächstes machen würden. Was aber denken Sie, müßte generell von der Politik oder der Gesellschaft als erstes getan werden, um den Zustand der Meere wieder in ein attraktives, sozusagen "fischgemütliches" Zuhause umzuwandeln?

GK: Ich glaube, wenn wir einfach in unserer westlichen Welt etwas bescheidener leben würden, wäre das schon ein guter erster Schritt. Es fängt damit an, daß man sich fragt, ob man wirklich jeden Tag Fleisch essen muß oder ob wirklich alle Menschen ein Auto brauchen. Aber es gibt so viele Facetten und Aspekte in unserer hochkomplexen und vernetzten Gesellschaft, wo man ansetzen könnte, wenn sich die Einsicht durchsetzt: "Weniger ist mehr". Das würde ich mir sehr wünschen, denn dadurch würde sich in der Folge sehr vieles automatisch verändern und dann natürlich letztlich irgendwann auch das Meer davon profitieren, weil es dann nicht mehr ausschließlich um die Biomasse-Produktion geht. Daher hatte ich in der Podiumsdiskussion auch die Expertenrunde der EU bei dem SAPEA-Prozeß [Science Advice for Policy by European Academies] erwähnt, in der wir uns im Hinblick auf die Nahrungsressourcen im Meer unter anderem auch mit der Frage auseinandergesetzt haben, ist es wirklich zukünftig einfach "mehr", was wir wollen und brauchen, oder ist es eigentlich "mehr Qualität".

SB: In der Publikumsrunde wurde es bereits angesprochen, der Meeresschutz kann derzeit durch die verschachtelte und unübersichtliche Zuständigkeit leicht unterlaufen werden, der Fragesteller sprach von Trade-Offs und faulen Kompromissen, die bestenfalls dabei herauskämen. Was meinen Sie, brauchen wir so etwas wie eine zentrale Weltbehörde, also eine international rechtswirksame Instanz für den Schutz aller Meere, welche die Vorschläge und Beschlüsse anschließend auch - wie Prof. Kraus es formulierte - mit einer gestaltenden Managementpolitik durchsetzt?

GK: Ja, der Einwand aus dem Publikum, warum es nicht eine Art Vatikan für das Meer gebe, der auch einem Chinesen verbieten könne, im Nordatlantik zu fischen, hat mir gut gefallen. Wobei ich ergänzend dazu sagen würde, wenn es um die spirituelle, geistige Verantwortung für die Umwelt geht, die uns Menschen einschließt, dann dürfte diese Instanz nicht nur vom Vatikan vertreten werden, sondern müßte auch die islamische, die jüdische und die buddhistische Gemeinschaft einschließen. Eigentlich sollten dann alle Religionsgemeinschaften an einen Tisch, wobei natürlich, um das Partizipationsdilemma nicht zu groß werden zu lassen, die großen Weltreligionen mehr Stimmrechte hätten als die Kleinen, da sie mehr Menschen repräsentieren. Es ist ein bekanntes Phänomen bei solchen Partizipationsprozessen, daß man alle Meinungen anhören möchte und dann plötzlich wieder vor der Frage steht, wer soll jetzt eigentlich die Entscheidungen treffen. Vor diesem Problem steht man immer wieder, was sich dann vielleicht durch rotierende Entscheidungsgremien und dergleichen lösen ließe. Aber den Einwand aus dem Publikum fand ich, wie gesagt, sehr klug.

SB: Sie wurden vorhin als Exotin vorgestellt, weil sie als Soziologin im AWI, einem Meeresforschungsinstitut in Bremerhaven, arbeiten, in dem ansonsten ausschließlich Naturwissenschaftler tätig sind. Wie kam es dazu? Haben Sie diese Position bei der Wahl Ihres Studienfachs und in ihrer weiteren Laufbahn bewußt angesteuert? War es schon immer ein Wunsch von Ihnen, in die Meeresforschung noch den gesellschaftspolitischen Blickwinkel einzubringen?

GK: Ja unbedingt. Das ist natürlich aus dem Kontext heraus entstanden, wie ich selbst groß geworden bin. Mein Vater ist Ozeanograph. Wir sind gemeinsam sehr viel in der Weltgeschichte herumgereist, was mich doch sehr geprägt hat. Gemeinsam mit meiner Familie habe ich die ganzen "netten" Ecken der Welt, die Philippinen, die Fidschi-Inseln, Neu-Kaledonien ausführlich kennenlernen dürfen. Mich hat dabei immer schon vor allem die Frage interessiert, was bewegt die Menschen, zu tun, was sie tun und wie werden sie und ihre Kulturen eigentlich von ihrer Umwelt geprägt. Das beginnt damit, daß man verschiedene Architekturstile hat, verschiedene Arten mit dem Boot rauszufahren, andere Netze, unterschiedliches Handwerkszeug, und, und, und. Darin läßt sich die Interaktion "Mensch und Meer" erkennen. Auch die unterschiedlichen Märchen und Legenden, welche verschiedene Kulturen über das Meer haben, enthalten ökologische Informationen. Eine meiner schönsten und prägendsten Kindheitserinnerungen in diese Richtung war wohl, als ein Fischer in Sansibar zu mir sagte: 'Siehst du diese Seegraswiesen? Das sind die Wimpern des Ozeans.' Das fand ich sehr poetisch.

SB: Am 5. und 6. Oktober war Malta Gastgeber der "Our Ocean"-Konferenz 2017, zu der die Europäische Union Führungskräfte aus der Politik, Außen- und Umweltminister, hochrangige Beamte aus öffentlicher Verwaltung, führende Wissenschaftler sowie Unternehmer und Geschäftsleute aus aller Welt einlud, um zentrale Meeresthemen wie Meeresschutzgebiete, Meeresverschmutzung, Mikroplastik, Klimawandel und nachhaltigen Fischfang zu erörtern. Dennoch beschleicht einen der Eindruck, daß es dabei schwerpunktmäßig um das Thema "Blue Economy" also um die wirtschaftliche Erschließung und Nutzbarmachung des Lebensraums Meer geht, was nur mit diesen gesellschaftlich populären Umwelt-Themen verbrämt und verschleiert werden soll. Teilen Sie diesen Eindruck als Wissenschaftlerin?

GK: Ja. Dennoch erkenne ich darin auch eine Chance. Ich habe einige Zeit in der Offshore-Windkraftbranche gearbeitet und war teilweise ziemlich erschüttert darüber, in welcher prekären Einkommenssituation die Küstenregionen hier in Deutschland oft leben. Da gehen beispielsweise mittelständische Unternehmen in Küstenregionen in den finanziellen Vorlauf, um die Energiewende voranzutreiben, und dann kommt wieder eine andere Vorgabe aus Berlin und das Projekt des Mittelständlers wird auf Eis gelegt.

Natürlich hat diese Blue-Economy-Debatte eine Menge negative Seiten, die "Urbanisierung des Meeres" ist hierfür ein Schlagwort. Aber ich finde, sie trägt auch dazu bei, daß die vergessenen Küstenbewohner und -regionen auf den politischen Radar kommen und zwar nicht nur als marginale Erscheinung mit nettem Tourismus - dort kann man schön am Strand spazieren gehen und handgepulte Krabbenbrötchen essen -, sondern wirklich als neuer ernstzunehmender wirtschaftlicher Faktor. Momentan sind die Küstenräume ebenso abgehängt wie die terrestrischen ländlichen Räume, wenn nicht sogar noch mehr, weil sie zusätzlich die Grenze zum Meer haben. Es sind also im verstärkten Sinne Grenzstädte. Deren Situation positiv zu ändern, würde ich mir sehr wünschen.

SB: Haben Sie durch die Erfahrung als ehrenamtliche Mitarbeiterin im Internationalen Rat für Meeresforschung (ICES) nicht manchmal den Eindruck, daß solche Organisationen, NGOs oder andere Initiativen, die sich mit dem Meeresschutz befassen oder für den Erhalt des Lebensraums Meer kämpfen, genau jenen Kräften zuarbeiten, denen sie eigentlich Einhalt gebieten wollen? Denn diese können unter dem Vorwand einfach so weitermachen wie bisher, daß es für den Schutz und andere Probleme des Meeres schon genügend Institutionen gibt, die sich darum kümmern.

GK: Nein, das kann ich eigentlich nicht bestätigen. Im ICES leite ich eine Arbeitsgruppe zur sozialen und ökonomischen Dimension der Aquakultur. Derzeit untersuchen wir Aquakultur im Küstenraum unter sozialökonomischen Aspekten. So halten wir es beispielsweise für erstrebenswert, daß die Gewinne, die dabei erzielt werden, der Region zugute kommen und wieder dahin zurückfließen. Das empfehlen und dokumentieren wir in einer Studie, die beispielsweise in dem ganzen Blue-Growth-Diskurs tatsächlich schon die wichtige Frage aufgeworfen hat, was denn eigentlich mit den Gewerbesteuern passiert. Wo gehen die hin? Sie landen nämlich in der Regel in der Hauptstadt und die betroffenen Gemeinden gehen leer aus. Auf solche Fragen versuchen wir hinzuweisen und bekommen dafür tatsächlich bereits sehr viel positiveres Feedback von der Bevölkerung vor Ort, aber auch von den politischen Entscheidungsträgern. Bislang sind die möglichen Einnahmequellen oder auch die Arbeitsplätze, die im Bereich der Aquakultur unter dem Aspekt der Blue Economy Unternehmungen generiert werden, relativ überschaubar. Da werden vielleicht fünf bis sechs lokale Arbeitsplätze geschaffen, um die Käfige zu reinigen und Fischfutter zu verteilen, mehr nicht. Und das sind auch keine hochwertigen Stellen - hochqualifizierte Akteure sind eher auf der Leitungsebene angesiedelt. Davon hat die Region am Ende sehr wenig. Daher ist die Umverteilung über die Gewerbesteuern ein erster Schritt, um positive regionale Effekte zu erzielen.

Dafür sind solche Gremien wirklich gut, weil wir hierdurch die Möglichkeit haben, so etwas über politische Grenzen hinweg anzusprechen. Was die Politik dann damit macht, fällt nicht mehr in unser Mandat; wir sind ja nicht gewählt. Aber wir nehmen unsere gesellschaftliche Verpflichtung als Wissenschaftler sehr ernst, um mit Hilfe von wissenschaftlicher Evidenz Szenarien und Modelle zu entwickeln, die deutlich machen können: Wenn ihr so weitermacht wie bisher, dann könnte das nach hinten losgehen ...

SB: Haben Sie herzlichen Dank, Frau Dr. Krause, daß Sie sich für unsere Fragen die Zeit genommen haben.

Bisher zu der Veranstaltung "Nahrungsquelle Meer" am 5. Oktober 2017 im Infopool des Schattenblick unter UMWELT → REPORT → BERICHT erschienen:

BERICHT/130: Die Sage und der eigene Ast - eine verschenkte Gelegenheit ... (SB)

INTERVIEW/263: Die Sage und der eigene Ast - teilen ja, bewahren nein ...     Prof. Dr. Marian Paschke im Gespräch (SB)


24. Oktober 2017


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