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INTERVIEW/285: Klimawandel - entfesselte Gefährlichkeit ...    Dr. Werner Würtele im Gespräch (SB)



Will die Menschheit vermeiden, daß die globale Erwärmung auf ein für Hunderte Millionen, wenn nicht Milliarden Menschen desaströses Niveau ansteigt, muß sie an einem Strang ziehen. Und zwar kräftig. Nicht einmal die Klimaschutzzusagen der Nationalstaaten (NDC) zum Übereinkommen von Paris reichen aus, die verheerenden Entwicklungen in den Natursystemen abzuwenden. Die Regierungen müssen noch kräftig nachlegen. Wie sehr, das verdeutlicht der "Sonderbericht 1.5", den der Weltklimarat IPCC am 8. Oktober 2018 in der südkoreanischen Stadt Incheon vorgestellt hat.

Unter dem Titel "Jedes Zehntelgrad zählt" haben am 23. Oktober die beiden Zusammenschlüsse Klima-Allianz Deutschland und VENRO - Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe zu einer Konferenz geladen, die sich mit dem Sonderbericht auseinandergesetzt hat. Dabei wurde klar: Was angesichts der dringend gebotenen Maßnahmen zur Begrenzung der Erderwärmung überhaupt nicht gebraucht wird, ist das Ausscheren einzelner Staaten wie der USA aus Klimaschutzabkommen. Oder von Brasilien, das am Sonntag Jair Bolsonaro zum neuen Präsidenten gewählt hat. Dieser hatte angekündigt, sich vom Übereinkommen von Paris zu verabschieden. Erst zwei Tage vor der Wahl, als seine Umfragewerte sanken, hatte der rechtsextreme Politiker seine frühere Erklärung modifiziert und angekündigt, daß Brasilien im Pariser Übereinkommen bleiben wird, solange es nicht die Souveränität des Landes verletzt. Also eine Ansage mit Hintertürchen.

Wie gefährlich dieser Mann nicht nur für den Klima- und Umweltschutz, sondern auch für Indigene, Minderheiten, Frauen und Oppositionelle ist, geht aus dem folgenden Interview hervor, das der Schattenblick am Rande der Konferenz "Jedes Zehntelgrad zählt" mit Dr. Werner Würtele, Präsident des Lateinamerika-Forums Berlin e.V., geführt hat.


Porträt - Foto: © 2018 by Schattenblick

Dr. Werner Würtele
Foto: © 2018 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Auf der heutigen Konferenz wurde mehrmals Brasilien erwähnt und daß unter dem aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro eine katastrophale Umweltpolitik droht. Auch die Indigenen werden Probleme bekommen. Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung bezeichnet das Amazonasbecken als "tipping point". Wenn der Amazonasregenwald aufgrund der Entwaldung kollabiert und nicht mehr seinen eigenen Regen produziert, hätte das Auswirkungen auf die ganze Welt. Trägt nicht Brasilien deshalb eine ganz besondere Verantwortung?

Dr. Werner Würtele (WW): Ja, es wird gesagt, daß 20 Prozent der Erderwärmung mit der Zerstörung des Regenwalds zusammenhängen. Da gibt es einen direkten Zusammenhang mit dem Klimawandel und auch mit den Auswirkungen auf die bedrohten Völker, die dort leben. Bolsonaro interessiert sich überhaupt nicht für den Regenwald. Wenn dort Bergbau betrieben werden kann, dann wird er ihn zulassen. Außerdem hat er angekündigt, keinen weiteren Zentimeter für die Markierung der indigenen Gebiete zuzulassen. Im Regenwald leben allerdings nicht nur Indigene, sondern auch andere Menschen. Ich rede jetzt nicht über die Holzfäller und Bergbaufirmen, sondern beispielsweise über die Sammler und Zapfer. Kann man etwas gegen die Entwaldung machen? Im Grunde genommen nur, Bolsonaro nicht zu wählen. Das wäre im Moment das einzige.

Es ist immer wieder mal versucht worden, auch unter der Regierung Lula [Anm. d. SB-Red.: Luiz Inácio Lula da Silva, kurz Lula genannt, von der Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) war zwischen 2003 und 2010 Präsident Brasiliens.] Maßnahmen auf der Seite der Indigenen zu ergreifen und die Indianerbehörde FUNAI zu stärken. Die müßte eigentlich mit polizeilichen Kompetenzen ausgestattet werden. Denn wenn im Amazonasregenwald illegal Holz geschlagen wird und die FUNAI sieht, daß die Holzfäller bewaffnet sind, dann müßte sie eigentlich als Vertreterin der Staatsmacht etwas dagegensetzen können. Kann sie aber nicht. Genau das ist das Problem. Spätestens seit Beginn der Wirtschaftskrise und dem Impeachment mit der Absetzung von Dilma Rousseff liegt FUNAI faktisch auf dem Trockenen. Die Indianerschutzbehörde hat nicht einmal mehr Geld, das Benzin zu bezahlen, um rausfahren zu können. Das heißt, es gibt die Institution noch, die Hülle ist noch da, die Angestellten sind es teilweise ebenfalls, aber sie haben nicht mehr die Mittel, um ihren Aufgaben nachzukommen. Das gilt für andere Institutionen genauso. Das ist das eine.

Das andere ist, daß die Umweltgesetze auch schon während der jetzigen Regierung verwässert wurden. Bolsonaro, der wahrscheinlich neuer Präsident wird, wird die ganzen Umweltgesetze kippen. Wie es heute morgen gesagt wurde, wird er wahrscheinlich aus dem Übereinkommen von Paris aussteigen. Er macht ein Stück weit Trump nach und gilt auch als der "Trump der Tropen". Das halte ich jedoch für eine Verniedlichung Bolsonaros, das muß man wirklich sagen. Gut, Trump ist gefährlich, weil die USA eine Weltmacht sind, aber Bolsonaro ist von seiner ganzen Sprache her eigentlich für einen normalen Brasilianer - ich habe viele Jahre in dem Land gelebt - unbegreiflich. 59 Prozent der Bevölkerung laufen diesem Rattenfänger nach.

SB: Wie konnte es dazu kommen, nachdem Lula doch ganz viele Leute aus der Armut herausgeholt und einen Mittelstand aufgebaut hatte?

WW: Und er ist in 2010, 2011 mit 80 Prozent Zustimmung ausgeschieden. Lula besaß wirklich eine große Zustimmung. 2002 war er von vielen Protestwählern gewählt worden, weil die Arbeiterpartei noch nie an der Regierung gewesen war. Zum Teil die gleichen Protestwähler wählen jetzt Bolsonaro. Die Gesellschaft war noch nie so von Haß zerfressen und erfüllt wie heute. Wo kommt er her, dieser Haß gegen die Arbeiterpartei PT?

Im Grunde genommen hat sie doch viel Positives geleistet. Sie hat unheimlich viele Leute vom informellen in den formellen Sektor geholt. Der Mindestlohn ist deutlich über die Inflationsentwicklung angehoben worden. Es sind Hunderte von Schulen und Universitäten gegründet worden. Es ist viel passiert. Klar, die Nuller Jahre waren eine Zeit der Hochkonjunktur. Brasilien erlebte einen Exportboom, und es tauchte China als wichtigster Handelspartner auf. China hat alles an Rohstoffen nachgefragt und umgekehrt seine Industrieprodukte verkauft. Letzteres hatte zum Teil sogar den Effekt, zu einer Deindustrialisierung in Brasilien zu führen. Aber das ganze florierte toll, alle waren begeistert, die Banker waren zufrieden, die Agroindustrie, alle waren glücklich.

2013, 2014 fing die Krise an. In Brasilien verhält sich das mit der Zustimmung zur Politik so wie bei einem Schwarm. Zunächst wurde auf Lula gesetzt. Als er sich auf dem absteigenden Ast befand und das gleiche später bei Dilma [Anm. d. SB-Red.: Dilma Rousseff, Präsidentin Brasiliens von 2011 bis 2016.] geschah, zog der ganze Schwarm rüber. Er geht immer zu der Person, von der angenommen wird, sie könnte erfolgreich sein und die Wahlen gewinnen. Das erlebt man heute wieder. Seit 2013 spielen dabei die sozialen Medien eine ganz große Rolle. Anfangs waren es noch die Proteste im Zusammenhang mit der WM 2014 und den Olympischen Spielen 2016. Ursprünglich hatten die Protestierenden soziale Forderungen gestellt: Bessere Bildung, mehr Arbeitsplätze, besseres Gesundheitswesen. So hat es angefangen. Das waren auch die Ziele der Arbeiterpartei und so konnte sie sich an die Spitze dieser Bewegung stellen. Dann kippte die Stimmung und plötzlich tauchten Lula und Dilma auf Protestplakaten in Sträflingskleidung und am Galgen auf.

Da hatte die Rechte die Protestbewegung praktisch okkupiert. Heute spielen die sozialen Medien mit WhatsApp in der Verbreitung von Fake News eine wichtige Rolle. Man weiß heutzutage gar nicht mehr, was Wahrheit und was Lüge ist. Da ist zum Beispiel ein Foto von Bolsonaro aufgetaucht, der ein Banner mit der Aufschrift vor dem Oberkörper hält: "Direitos humanos: esterco da vagabundagem", z. Dt.: "Menschenrechte: Mist für den Vagabundismus". Auf einmal haben die Menschenrechte in Brasilien eine ganz andere Bedeutung, sie sind zu einem Negativbegriff geworden.

SB: Hat die Linke dabei versagt klarzumachen, was die Menschenrechte für die ärmeren Menschen bedeuten?

WW: Nun ja, jetzt werden diejenigen, die sich für die Menschenrechte einsetzen, in Verbindung mit Korruption, mit marginalisierten Gruppen und Kleinkriminellen, etc. gebracht. Erst heute habe ich gelesen, daß Bolsonaro gesagt hat, er werde die ganze Linke ausschalten. Da gebe es zwei Möglichkeiten, entweder ins Gefängnis oder ins Ausland. Das ist eine klare Kriegserklärung! Der Typ will eine Diktatur installieren, und zwar in der brutalsten Form. Eigentlich ist er gegen alle. Gegen die Schwarzenbewegung, gegen die Frauen. Da gibt es ein berühmtes Zitat von ihm, das bezeichnend ist: "Diese Abgeordnete ist so häßlich, die würde ich noch nicht mal vergewaltigen." Zu solchen Sprüchen ist der in der Lage. Um nur ein Beispiel von vielen zu nennen. Es ist unglaublich, was da abgeht. Und gegen die Indigenen geht es natürlich insbesondere. Die sieht er nur als Entwicklungshindernisse.

SB: Droht Brasilien wieder wie einst zu einer Militärdiktatur zu werden oder ist dazu sogar eine Steigerung vorstellbar?

WW: Ich schätze das schon als eine Steigerung ein. Die Militärs haben 1964 die Macht ergriffen. Das war die Zeit des Kalten Kriegs, die USA lauerten im Hintergrund und haben diesen "golpe militar" [Anm. d. SB-Red.: Militärputsch] ganz klar unterstützt. Es ging damals um die Eindämmung des Kommunismus beispielsweise Kubas und Moskaus. Aber es ging auch um Wirtschaftsentwicklungen. Die Militärs haben das Projekt einer starken Nation verfolgt. Die basierte einerseits auf multinationalen Konzernen, die man reingeholt hat - Volkswagen zum Beispiel - und auf der anderen Seite auf einem starken Staatssektor mit staatlichen Betrieben wie Petrobas, Electrobas, etc. Diese Betriebe sind damals richtig gepusht worden, sie gibt es zum Teil noch heute. Bolsonaro wird diese Unternehmen mit Militärs besetzen. Das war damals auch so. Ob das schlimmer wird als damals? Das steht zu befürchten.

SB: Einen Schwenk von vormals im weiteren Sinn linken Regierungen nach rechts gibt es nicht nur in Brasilien, sondern beispielsweise auch in Ecuador von Rafael Correa zu Lenín Moreno, sowie in Argentinien, Chile, etc. Wie konnte es in den verschiedenen Ländern Südamerikas zu dieser Art Konter gegen die linke Massenbewegung kommen?

WW: Wir erleben tatsächlich in den meisten Ländern einen Rechtsruck. Ausnahme ist Mexiko oder vielleicht noch Costa Rica, wo gerade der Mitte-Links-Kandidat knapp gegen einen Evangelikalen gewonnen hat. Aber ansonsten Chile mit Sebastián Piñera, Argentinien mit Mauricio Macri - Moreno würde ich nicht unbedingt in die gleiche Reihe stellen. Er gehört praktisch zum gleichen Stamm wie Correa. Obgleich in Ecuador keine linke Politik mehr betrieben wird, sondern das Land eine neoliberale Richtung eingeschlagen hat.

Die Strategie der neoliberalen Regierungen hat allerdings ein großes Problem: Trump. Sie hatten nicht damit gerechnet, daß Trump gewählt wird, und auf das große Geschäft mit den USA gehofft. Jetzt schottet sich Trump ein Stück weit ab und interessiert sich allenfalls noch für Venezuela und Kuba, aber nicht mehr besonders für Lateinamerika. Der Trend hatte schon bei Obama und Bush angefangen.

Venezuela muß jetzt beim Wahlkampf der Rechten herhalten. Die sagen, es droht eine kommunistisch-schwul-venezolanische Gefahr, dagegen müsse man sich positionieren. Die Leute glauben das. Manchmal ist das wie ein Pendel. Wir hatten eine Zeitlang mehr die linken Regierungen, jetzt kommt die Wirtschaftskrise, das Pendel schlägt nach rechts aus. Insofern ist es fast ein bißchen natürlich und man könnte beinahe darauf warten, daß das Pendel irgendwann wieder in eine andere Richtung schlägt. Nur, wie verfestigt wird es dann sein? 1964 hatte man auch gedacht, die Militärs bleiben nur ein paar Jahre und das war's dann. Es wurden 21 Jahre! Bei Pinochet in Chile genauso. Da haben alle geglaubt, der macht es nicht lange. Ähnlich bei Adolf Hitler, von dem die herrschende Klasse geglaubt hatte, er sei ihre Marionette. Aber nein, er hat einen Repressionsapparat aufgebaut, und so ähnlich wird es möglicherweise bei Bolsonaro laufen. Dessen Kandidat für den Posten des Vizepräsidenten ist General Antônio Hamilton Mourão. Es droht uns eine Militarisierung. Auch das ist eine Art Putsch, eine militärische Machtergreifung, aber mit Unterstützung der Bevölkerung durch die Wahlen. Die Militarisierung Rio de Janeiros könnte als Vorbild dienen.

SB: Sie sprechen auf die Militäreinsätze in den Favelas an?

WW: Ja, die Militärs haben das Oberkommando über die verschiedenen Polizeieinheiten inne. Das könnte ein Modell für ganz Brasilien werden.

SB: Wie schätzen Sie die Zukunft der Klimapolitik Brasiliens und anderer südamerikanischer Länder ein? Wird Klimaschutz von den rechten Regierungen ernstgenommen oder eher das Gegenteil verfolgt?

WW: Ich sehe das sehr, sehr skeptisch. Auf der einen Seite, wenn man an Bolsonaro denkt, sieht es mit dem Klimaschutz düster aus. Auf der anderen Seite muß man feststellen, daß viele Länder auf die Karte der erneuerbaren Energien setzen. Kommt man nach Chile, erlebt man ein Land, in dem die erneuerbaren Energien funktionieren. Man hat dort einen ständigen Wind und viel Sonne, insbesondere in der Atacamawüste. Chile war immer sehr stark von Erdgasimporten aus Bolivien abhängig. Das kam über Argentinien rein. Irgendwann hat Bolivien gesagt, das wollen wir nicht, das ist unser Feind. Chile war also auch ein Stück gezwungen, auf erneuerbare Energien zu setzen. Die eigenen Kohlereserven waren erschöpft, man brauchte die Alternative. Da tut sich also was.

Außerdem haben wir in Nordostbrasilien sehr viele Windräder. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit unterstützt das. Das ist eine sehr positive Entwicklung, das muß ich mal sagen. Auch in Bolivien gibt es so etwas. Obwohl dessen Präsident Evo Morales mit dem Gedanken spielt, ein Akw zu bauen. Das ist manchmal eine widersprüchliche Entwicklung. Also, wie gesagt, auf der einen Seite bin ich sehr skeptisch, was den Klimaschutz angeht, auf der anderen Seite gibt es durchaus Hoffnungsschimmer.

SB: Herr Würtele, herzlichen Dank für das Gespräch.

Bisher im Schattenblick zur Konferenz "Jedes Zehntelgrad zählt" am 23. Oktober 2018 in Berlin im Schattenblick unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT erschienen:

BERICHT/146: Klimawandel - Schaden genug ... (SB)


29. Oktober 2018


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