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BERICHT/097: Wege bauen, Grenzen überwinden (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 1 - 2014

Wege bauen, Grenzen überwinden

Von Harald Pechlaner und Michael Volgger



Grenzen sind ständige Begleiter des menschlichen Handelns. Wie Wege helfen können, ein Zuviel an Grenzen insbesondere in Tourismusdestinationen zu überwinden, ließ sich im Rahmen einer wissenschaftlich geleiteten Radtour auf der Via Claudia Augusta erleben.


Trotz weitreichender Globalisierungstendenzen, trotz eines oft proklamierten europäischen Einigungsprozesses sind Grenzen nach wie vor allgegenwärtig. Beispielhaft genannt seien hier administrative und politische Grenzen, aber auch naturräumliche und kulturräumliche Grenzen. Daneben bestehen auch moralische, gesetzliche und "Grenzen im Kopf". Was all diese Varianten von Grenzen verbindet, ist ihre Eigenschaft, einen kontinuierlichen Übergang in einen abrupten Gegensatz umzudefinieren. Dadurch erleichtern Grenzen Denkprozesse - einen Vorteil, den sich die Dialektik zu Nutze macht. Grenzen erheben zudem nicht selten den Anspruch, die Handlungsfreiheit des Menschen auf ein sinnvolles Maß einzugrenzen. Um es allgemein zu fassen: Grenzen reduzieren Komplexität, indem sie Unterschiede fixieren und nach innen Gemeinsamkeit stiften. Sie sind nicht zufällig häufig historisch gewachsen. Dennoch: Eher als an einem Mangel an Grenzen zu leiden, scheinen in ausdifferenzierten Gesellschaften die Möglichkeiten der Überwindung von Grenzen ausbaufähig. Die letzten Jahre waren geprägt von gesellschaftlichen und ökonomischen Krisensituationen, entsprechend sind neue Ideen und Ansätze gefragter denn je. Offenheit als Gegensatz zur Grenze kann die notwendige Kreativität vorantreiben. Grenzen können aber auch die Umsetzung von Ideen fördern, indem Kooperationsmöglichkeiten und Synergiepotentiale forciert werden. Wie können wir entsprechende Rahmenbedingungen schaffen, um die dafür notwendigen Brücken zu bauen?

Gerade der Voralpen- und Alpenraum ist ein Lebens- und Wirtschaftsraum, welcher von einer Vielzahl an Grenzen geprägt ist. Dies reicht von der als UNESCO-Welterbe ausgezeichneten historischen Grenze des Bayerischen Limes bis hin zu den großen Flussläufen und Gebirgsketten, welche diesen Teil Mitteleuropas prägen. Gleichzeitig zeigt gerade der Voralpen- und Alpenraum auf, dass Wege die Grenzen zumindest partiell überwinden können. Er verfügt auch über Beispiele von dynamischen und flüssigen Grenzen, welche die grundsätzliche Veränderbarkeit von Grenzziehungen aufzeigen. In gewisser Hinsicht finden wir eine ähnliche Situation im System des Tourismus vor. Neben Grenzbestimmungen, welche die nachfrageseitige Bewegungsfreiheit der Touristen eingrenzen, leidet gerade auch die touristische Produktentwicklung in Destinationen häufig unter einer rigiden und aus ökonomischer Sicht suboptimalen Grenzziehung. Destinationsgrenzen stimmen fast überall auf der Welt mehr mit administrativen Grenzen überein als mit den Bewegungsräumen der Gäste. Daher stellt sich unter Touristikern und Tourismusforschern die notorische Frage nach den Möglichkeiten und Wegen der Überwindung dieser ineffizienten Grenzziehungen in Destinationen. Die Frage erhält derzeit vermehrt Relevanz, da der Tourentourismus einen Aufschwung erfährt. Beispiele dafür sind der Erfolg diverser Themenwege wie Weinstraßen und derjenige des Radtourismus, aber auch die ehemaligen Frontlinien werden im heurigen Jubiläumsjahr des Ersten Weltkriegs an touristischer Bedeutung zulegen. Schließlich sind Gäste wiederum nicht selten die ersten, die lokal gewachsene Grenzen missachten, entweder weil sie diese nicht kennen oder sich in ihrem Urlaubsraum nicht einschränken lassen wollen. Damit werden Gäste und mit ihnen das System Tourismus bisweilen zu entscheidenden Brückenbauern.

Vor diesem Hintergrund versuchten die Autoren des Beitrags in einem Experiment des "research bikings" die Grenzen der traditionellen wissenschaftlichen Methoden zu überwinden, um die obengenannten Fragen zum Spannungsfeld von Wegen und Grenzen näher zu beleuchten. Als Fallbeispiel diente dabei eine Radtour entlang der transalpinen Route Via Claudia Augusta von Donauwörth in Bayern bis in die italienische Poebene nach Ostiglia. Diese als Römerstraße entstandene Route verbindet seit über zwei Jahrtausenden Kulturen, Landschaften und Menschen im Herzen Europas. Sie war bis ins zweite Jahrhundert n. Chr. überhaupt die wichtigste Wirtschaftsachse über den Alpenraum, welche entlang von Etsch, Inn und Lech und über Reschen- und Fernpass verlaufend insbesondere die Häfen Ostiglia (Hostilia) und Altino (Altinum) mit Augsburg (Augusta Vindelicorum) verband. Beim Radweg an der Via Claudia Augusta handelt es sich übrigens laut dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) um den zweitbeliebtesten internationalen Radfernweg in Deutschland. Entlang dieser Strecke haben die Autoren Ende Oktober 2013 in gut einer Woche etwa 700 Kilometer mit dem Rad zurückgelegt und dabei entsprechend der skizzierten Themenstellung etwa 20 Interviews geführt - mit Tourismusmanagern, Politikern und Museumsmanagern. Zudem hat es gewissermaßen am Dach der Tour, unterhalb des Reschenpasses, ein "Gipfelgespräch" mit den Tourismusdirektoren von Bayern, Tirol und Südtirol gegeben. Bei diesem Treffen wurden gemeinsam Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit auch jenseits des Radweges der Via Claudia Augusta erörtert.

Was stellt nun aber die Herausforderung bei der Stärkung einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im Rahmen eines kulturellen und touristischen Produktes wie der Via Claudia Augusta dar? Die These wäre, dass vor allem eine bestimmte Art von grenzüberschreitender Leadership dazu von Nöten ist. Wie aber ist diese Leadership zu charakterisieren? Alle Gesprächspartner entlang der Route waren sich einig, dass europäische Wege wie die Via Claudia Augusta grundsätzlich Gelegenheit schaffen, um die Zusammenarbeit zwischen Räumen und Destinationen zu fördern. Der Weg bietet also Möglichkeiten zur Überwindung von Grenzen, die erfolgreiche Umsetzung dieser grenzüberschreitenden Potentiale hängt aber von weiteren Aspekten ab. Neben der historischen Dimension können die organisatorische, personelle und kulturell-thematische Einbettung eines Weges genannt werden. Regionale Differenzen stellen dabei eine mehr als relevante Rahmenbedingung dar. Interessanterweise ist die thematische Verankerung des Radweges der Via Claudia Augusta je nach Region unterschiedlich gewachsen. In Bayern wurde seine Entwicklung unter der Perspektive der ländlichen Entwicklung vorangetrieben, womit eine starke Verankerung der Idee in den Kommunen und eine relativ weit gediegene Identifikation in der Bevölkerung einhergingen. In Tirol war der Auf- und Ausbau der Radroute in erster Linie von einer touristischen Perspektive geprägt. In Italien schließlich dominiert bis heute im Umgang mit der Via Claudia Augusta ein kulturell und archäologisch getriebener Zugang. Aus dieser Betrachtung heraus ergeben sich somit regionalspezifische Stärken und Defizite, welche sich recht gut gegenseitig auszugleichen scheinen. Eine zukünftige Leadership an der Via Claudia Augusta wird auf diesen nutzenstiftenden Umgang mit Differenzen wohl noch stärker eingehen müssen.

Daran anknüpfend erscheint in den Interviews als weitere zentrale Herausforderungen für eine grenzüberschreitende Leadership die Sicherstellung einer gemeinsamen Identität bei gleichzeitiger Vertretung der einzelnen Regionen, Länder und Destinationen. Die Involvierung der lokalen und regionalen Stakeholder ist wohl dermaßen zu gestalten, dass ihr Wissen und ihre Kompetenzen um lokale Räume, Landschaften und Kooperationsgefüge einen Beitrag zum Qualitätsanspruch des Gesamtprodukts leisten können. Auch auf dieser Basis kann Leadership insbesondere den Umgang mit Differenzen bedeuten, und zwar dergestalt dass das Gemeinsame immer wieder über das Trennende gestellt wird, ohne dabei die Differenzen auflösen zu müssen.

Viele Gesprächspartner sind in diesem Sinne der Meinung, dass die derzeitige Governance der Via Claudia Augusta schon eine beachtliche Qualität erreicht hat, aber gleichzeitig auch noch Verbesserungspotential zeigt. So existiert mit der Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV) Via Claudia Augusta eine transnationale organisatorische Klammer. Der jeweilige regionale Unterbau dieser EWIV erscheint aber zum Teil noch ausbaufähig, was die Repräsentanz der Akteure sowohl auf touristischer als auch auf kommunaler Seite betrifft. Hier sind jedoch Unterschiede zwischen den Ländern zu beachten. Dies zeigt sich auch in der variierenden Beschilderungsqualität zwischen den einzelnen Teilabschnitten, was der Qualitätsbotschaft der Gesamtstrecke verstanden als Dienstleistungskette natürlich zusetzt. Entsprechend kann mit der Sicherstellung von zeitlicher und räumlicher Kontinuität ein weiteres Kriterium in der grenzüberschreitenden Leadership festgemacht werden. Ein Netzwerkprodukt kann schließlich nur so gut sein wie sein schwächstes Glied.

Die Via Claudia Augusta hält somit diverse Ansatzpunkte bereit, um mit der hier vorgeschlagenen Deutung von Leadership als Fähigkeit, Wege zu bauen und Grenzen zu überwinden, in Kontakt zu kommen. Zuletzt sei verwiesen auf Augsburg mit dem Bezug zur Unternehmerfamilie der Fugger, deren Handeln schon im 15. und 16. Jahrhundert durch ein ähnliches Leadership-Verständnis geprägt war. Im Mittelpunkt standen globale Aktionsradien, Innovation und soziale Verantwortung. Leadership heißt schließlich wohl doch Wege und Grenzen zusammen zu denken, und Grenzen als Punkte der Begegnung - ja touristisch könnte man schlussfolgern: als Punkte der Gastfreundschaft aufzufassen.

Ein ausführlicher Blog zur Reise findet sich unter

wegeundgrenzen.wordpress.com


Prof. Dr. Harald Pechlaner ist an der KU Inhaber des Lehrstuhls Tourismus und Leiter des Zentrums für Entrepreneurship. Die hier beschriebene Tour unternahm er gemeinsam mit dem Doktoranden Michael Volgger im Rahmen seines Forschungsfreisemesters.

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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 1/2014, Seite 18-19
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. August 2014