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BERICHT/148: Die Esoterik-Szene in Nordrhein-Westfalen (RUBENS/Uni Bochum)


RUBENS - Nr. 113 vom 1. Februar 2007
Nachrichten, Berichte und Meinungen aus der Ruhr-Universität Bochum

Kartell der Diplom-Hexen
Bochumer Religionswissenschaftler erforschen die Esoterik-Szene in NRW

Von Markus Hero


Feng Shui, Bachblüten, Rebirthing und andere esoterische Praktiken haben längst ihren obskuren Charakter verloren. Sie werden allein in NRW jährlich von 150.000 Menschen nachgefragt. Es gibt Zentren, Institute, Messen und Bücher, für die sich vor allem Frauen interessieren. Das ergab eine aktuelle Studie im Rahmen des Projekts "Religiöse Vielfalt in NRW" am Lehrstuhl für Religionswissenschaft. Sie ist zugleich die erste wissenschaffliche Untersuchung der Esoterik- Szene in NRW.

Während aus allen Ecken Musik dringt, die Klangliege mit Didgeridoo- Begleitung zum Träumen einlädt, Räucherkerzen aromatische Düfte verbreiten, lauern überall Prophezeiungen. Astrologen deuten schicksalhafte Begebenheiten und gegen Gefahren wie Elektrosmog und Erdstrahlung werden Strahlungspyramiden oder Amulette angeboten. "Ganzheitlich denkende Menschen" vom Aurafotografen über den Schamanen bis hin zur Wahrsagerin informieren den interessierten Besucher der "ESO D'AIX" in Aachen - einer jährlich stattfindenden Esoterikmesse - über Engelkontakte, die Heilwirkung von Edelsteinen, und andere magische Dinge.

Daneben gibt es eine Fülle von kostenlosen Vorträgen aus den Grenzbereichen von Therapie, Religion und Wissenschaft: Ob Reinkamation, die "politische Dimension von Wasser", Schamanismus oder pendelgestützte Lebensberatung, all dies soll dem Kunden Lebenshilfe, Persönlichkeitsentwicklung und Sinnfindung in Aussicht stellen. Auch dem wissenschaftlichen Beobachter wird hier Einblick gewährt in ein neu entstandenes transzendentales Gewerbe, in dessen Mittelpunkt Heil, Heilung sowie die Einweihung in heilsrelevantes Wissen und magische Kräfte stehen.

Durch ihren Rekurs auf übersinnliche Instanzen zu Fragen von Lebenssinn und Lebensführung leisten auch diese Heilsdienstleistungen einen wesentlichen Beitrag zur multireligiösen Kultur unserer Zeit. Vor allem unter dem Etikett "Esoterik" firmierende Angebote erfreuen sich zunehmender Beliebtheit.


Uralte Weisheiten

Im eigentlichen Wortsinn verweist der Begriff "Esoterik" auf Weltanschauungen, die nur einem Kreis von Eingeweihten und Erleuchteten zugänglich sind.

Doch die gegenwärtige Esoterik tritt höchst exoterisch auf. Der "Psychoboom" mit seinen verschiedenen religiös beladenen Therapieformen und Selbsterfahrungstechniken hat dazu beigetragen, ehemals exotisches Wissen über magische und religiöse Praktiken im Alltagsbewusstsein vieler Menschen zu verankern: "Feng Shui", "Tarot", "Bachblüten", "Rebirthing", "Aurareinigung", "Astrologie", "Geoästhesie", "Meditation" und "Hypnose" sind keine elitären, obskuren Praktiken mehr, sondern werden als "uralte Weisheiten" zunehmend Teil der Freizeitgestaltung breiter gesellschaftlicher Schichten.

Auch in Nordrhein-Westfalen hat eine Vielzahl von spirituellen Lehrinstituten, Verlagen, Therapiezentren, Buchläden und Esoterik- Geschäften in den letzten Jahren ihre Arbeit aufgenommen. Wie das Projekt "Religiöse Vielfalt in NRW" am Lehrstuhl für Religionswissenschaft (s. Info) zeigt, sind neue Religionen (angefangen von Meditationsgruppen fernöstlicher Prägung bis hin zu neuheidnischen Hexenstammtischen) und Esoterik-Anbieter vor allem in städtischen Gebieten entlang der Rheinschiene und im Ruhrgebiet zu finden (s. Grafik). Sie widmen sich der "Entwicklung des Bewusstseins", der "Persönlichkeit", der "Erlangung spiritueller Erfahrungen" oder der "Wiederherstellung des Einklangs mit den natürlichen Kräften der Schöpfung".

Mittlerweile bieten über 2.500 Zentren, Institute und Heilpraxen in NRW esoterische Dienste an. Zu über 90 Prozent von Frauen geführt und zu mehr als der Hälfte auch von Frauen nachgefragt genügen diese Einrichtungen und Angebote vor allem dem Emanzipationsanspruch höherer Bildungsschichten. Frauen finden in dieser - im Gegensatz zu anderen Religionen - nicht von Männern dominierten Welt einen Ausgleich zum "Alltagstrott".

Immer neue Moden von Heilsdienstleistungen erweitern kundengerecht aufbereitet meist als bunte Mixtur aus "religiösen", "spirituellen", "ganzheitlichen" oder "okkultistischen" Therapien das Angebot. Einfach und schnell handhabbare Heilsgüter sind für viele Menschen zu einem wichtigen Bezugspunkt der Lebensführung geworden: "Ein Edelstein gibt neue Kräfte", "Bachblüten heilen Leib und Seele", "Ist dieser Mann der Richtige für meine Tochter? Die Astrologie hält die Antwort parat". Die neuen Sinnstiftungsofferten werden in NRW jährlich von rund 150.000 Menschen nachgefragt - das ergab ebenfalls die Bochumer Studie.


Ganzheitlichkeit

Die Produzenten und Konsumenten des neuen Heilsgeschehens stammen überwiegend aus einer neuen Mittelschicht mit ganzheitlicher Wertorientierung. Angehörige der neuen sozialen und kulturellen Dienstleistungsberufe werden zu Pionieren des alternativen religiösen Lebensstils. Dabei besteht ein enger Zusammenhang von alternativen Praktiken und solchen, wie sie von Berufsgruppen im gesundheitlichen, psychosozialen und pädagogischen Bereich ausgeübt werden. Esoterik- Anbieter nutzen die neureligiösen magischen Techniken für ihre berufliche Repräsentationsarbeit und zugleich zur Stilisierung der eigenen Lebensführung: "In unserer Praxis und im privaten Leben wird ganzheitlich gedacht und gearbeitet".

Unübersehbar entsteht ein neuer Markt der "Esoterik", auf dem Waren und Dienstleistungen mit spirituellem Mehrwert beworben und verkauft werden. Eine Vielzahl freigewerblicher Ritendesigner relativiert nicht nur die Geltung etablierter religiöser Heilsversprechen, die neuen Heilspropheten wetteifern vor allem untereinander um die Gunst der Klienten. Die verschärfte Konkurrenzsituation in der neureligiösen Szene führt zu einer Professionalisierung und Popularisierung des Heilsgeschehens. Neue Heilsberufe kämpfen um Reputation auf dem freigewerblichen Heilermarkt, schließen sich zu Verbänden zusammen, geben sich ethische Richtlinien oder weisen sich durch Zertifikate aus. Derzeit versuchen etwa selbsternannte "Diplom-Hexen", sich kartellartig zusammenzuschließen und durch ein Gütesiegel die Absatzchancen ihrer Dienstleistungen zu sichern.

Heilsanbieter sind auch Unternehmer unter Marktbedingungen und damit gezwungen, metaphysisch-religiöse Importe aus aller Welt "marktgerecht" zu verkaufen und aktiv auf die institutionellen Rahmenbedingungen des Geschäfts mit dem Seelenheil einzuwirken. Neun Milliarden Euro pro Jahr lassen sich Bundesbürger die Suche nach dem Sinn des Lebens kosten, rechnete 2004 die Dresdner Bank aus. Weitere Indizien für den transzendenten Aufschwung liefert der Buchmarkt: Im letzten Jahrzehnt wuchs der Umsatz mit Esoterikbüchern um das Zweieinhalbfache, die monatliche Auflage hat die Grenze von 500.000 Exemplaren durchstoßen.


20 Esoterikmessen

Seinen sinnbildlichen Ausdruck findet der neue religiöse Markt auf den so genannten Esoterikmessen. Deutschlandweit locken jährlich über 20 solcher Messen jeweils mehr als 6.000 Besucherinnen und Besucher an. Einem orientalischen Basar gleich, kann sich der Sinnsuchende auf diesen Messen aus vielfältigen Heilsofferten seine individuelle Religiosität zusammenbasteln.

Für die Esoterik-Anhänger hebt sich die bunte Vielfalt der Angebote wohltuend ab von einer als starr und überkommen erlebten kirchlichen Bevormundung. Hier lässt sich ganz unverbindlich auswählen, was augenblicklich interessiert. Die verfassungsmäßig garantierte Glaubensfreiheit scheint sich damit zusehends auch praktisch zu verwirklichen: Glaubenssysteme, religiöse Praktiken, Mythen und Bilder sind zu allseitiger, individueller Nutzung freigegeben.


Markus Hero, Lehrstuhl für Religionswissenschaft.


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Religiöse Landschaft

Über 9.000 Datensätze liefert die weltweit erste Studie, die Religionsgemeinschaften (RG) und ihre Mitglieder flächendeckend erfasst. Auf dieser Basis entstand eine interaktive Karte der religiösen Landschaft NRW, die wiederum Ausgangpunkt für weitere religionswissenschaftliche Fragestellungen ist (religiöse Diversität, Migration und Integration, Parallelgesellschaften etc.). Rund 280 religiöse Gemeinschaften und Strömungen, die landesweit auf etwa 7.000 Gemeinden und Ortsgruppen verteilt sind, sprechen zunächst für eine starke Pluralisierung der Gesellschaft. Dennoch ist NRW mit 42 Prozent Katholiken und 28 Prozent Protestanten ein überdurchschnittlich katholisch geprägtes Land. Weiterhin wurden erfasst: Muslime (2,8%), kleinere christliche RG (1%), Orthodoxe Kirche (0,5%), Jüdische Gemeinden (0,2%), östliche und neue Religionen sowie Esoterikszene (1%). 25 Prozent der Bevölkerung gehören keiner religiösen Gemeinschaft an. Das Projekt "Religiöse Vielfalt in NRW" unter Leitung von Prof. Dr. Volkhard Krech (Religionswissenschaft, Evangelisch- Theologische Fakultät) wird durch das Land NRW gefördert.

Interaktive Karte und Kurztexte unter: www.religion-plural.org


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Bildunterschriften:

Der Edelstein Achat soll bei Augenkrankheit, Schwangerschaft, Hirnhautentzündung, Fieber und Epilepsie helfen

Die meisten Esoterik-Anbieter und Nachfrager finden sich in städtischen Gebieten entlang der Rheinschiene und im Ruhrgebiet


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Quelle:
RUBENS - 14. Jahrgang, Nr. 113 vom 1. Februar 2007, S. 3
Herausgeber: Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum, 44780 Bochum
Tel: 0234/32-23 999, -22 830, Fax: 0234/32-14 136
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Februar 2007